Wände und Leinwände

von Martin Pesl

Wien, 23. Mai 2013. Ist das Leben wichtiger als die Kunst? Wer sich diese Frage stellt, ist meistens Künstler und beantwortet sie mit nein, weiß aber nur zu gut: Die Kunst beeinflusst das Leben und vice versa. Der argentinische Regisseur Mariano Pensotti nahm sich vor, dieses Wechselspiel anhand von Filmemachern zu untersuchen, befragte einige von ihnen in Buenos Aires zu ihrem Leben und schrieb dann, derart vom Leben inspiriert, völlig fiktive Geschichten nieder. Obwohl er selbst Film studiert hat, wollte Pensotti, der seit ein paar Jahren mit Theaterproduktionen durch die Welt tourt, diese Geschichte keinesfalls mithilfe des Mediums Film erzählen, und so ist es ein Theaterabend geworden.

Vor einer Woche hatte er in Brüssel Premiere und ist nun im Rahmen der Wiener Festwochen im brut zu sehen: auf zwei Ebenen, sozusagen im Split-Screen. Auf ebener Erde erstreckt sich zunächst ein üppig eingerichtetes modernes Zimmer, das als Wohnung oder Büroraum einsetzbar ist; im ersten Stock herrscht Leere. Das Prinzip ist rasch klar: Was unten Wände sind, sind oben Leinwände. Unten findet das Leben der vier Filme machenden Protagonisten statt, oben werden die jeweiligen Filme ausagiert, an denen sie gerade arbeiten.

cineastas1551 560 armin bardel uUnten das Leben, oben die Kunst: die Bühne als Split Screen  © Armin Bardel

Schicksal als Kopfkino

Was kompliziert und verschachtelt wirkt, ist es eigentlich nur in technischer Hinsicht. Die fünf souveränen Schauspieler müssen pausenlos nicht nur zwischen den Stockwerken, sondern auch zwischen allerlei Rollen wechseln, und ein schwarz gekleideter Assistent hat alle Hände voll zu tun, Tische, Stühle, Bilder oder Gummiboote, die für die jeweiligen Szenen benötigt werden, herbeizuschaffen und nach den meist kurzen Passagen auch wieder zu entfernen. Narrativ werden die vier Geschichten zwar alternierend erzählt, beeinflussen einander aber nicht, bleiben isolierte Schicksale von Künstlern und ihrem (Kopf)Kino.

Da ist zum Beispiel Gabriel, der eine Komödie drehen soll, aber gerade erfahren hat, dass er todkrank ist. Er erzählt niemandem davon, verändert sein Projekt aber zusehends zu einem Film über ihn selbst, der die Erinnerung an ihn wahren soll. Unterdessen steigt Mariela der fixen Idee einer russischen Seele nach, die in ihr vorfahrenbedingt schlummern sollte, indem sie ihren Mann für einen Russen verlässt, aber auch, indem sie aus Archivmaterial sowjetischer Musikfilme eine Doku schneidet (hierzu am ersten Stock mit Verve – und viel Ironie – vollführte Tänze sind unleugbar äußerst lustig!).

Nadia hat so lange eine Schreibblockade, bis die französische Produktionsfirma ihr einfach ein Drehbuch vorsetzt, worin im Jahr 2013 ein während der argentinischen Militärdiktatur verschwundener Vater wieder auftaucht. Lucas schließlich dreht an Wochenenden mit Amateuren, während er sich bei McDonald's verdingt. Je mehr er Karriere bei dem verhassten Arbeitgeber macht, desto mehr verändert sich auch sein Film über ein Entführungsopfer, das gezwungen wird, als Ronald-McDonald-Maskottchen aufzutreten.

Wenn die Überblendung zweier Ideen eind dritte ergibt

Vier "echte", vier fiktive Plots, hundert Minuten Drive. Der fast permanente Soundtrack macht Tempo, das Bühnensetting erlaubt rasche Szenenwechsel, und Pensotti begnügt sich bei den meisten Szenen oben wie unten mit flüchtigen Andeutungen. Dialoge finden zwar reichlich statt, treibende Kraft der Handlung sind aber die Erzähler, die eines von zwei Mikros an sich reißen und sachlich, wie in einem Drehbuchtreatment, berichten, was in den und um die Hauptfiguren geschieht. Als Film hätte das tatsächlich kaum so gut funktioniert.

Für wie profund der einzelne Zuschauer Pensottis Gedanken zu Fiktion, Wunschtraum und Realität hält, hängt wohl stark davon ab, wie viel Künstler-Identifikationspotenzial er bei sich selbst ortet. Manchmal sind diese Betrachtungen etwas sehr klar ausgestellt, etwa wenn am Ende der untere Raum genau so leer geräumt und "leinwandartig" ist wie der obere oder wenn die Figuren plötzlich über Eisenstein und seine Theorie der Montage philosophieren (dass nämlich die Überblendung zweier Ideen eine dritte ergibt). Letztlich ist dem Theatermacher aber zugute zu halten, dass er seine Filmemacher weder in Hollywood-Happyends noch in Tragödien enden lässt, sich gelegentlich anbietenden Kitsch umgeht und die Frage nach dem Leben und der Kunst verlässlich auch weiter mit jein beantwortet.

 

Cineastas / Filmemacher
von Mariano Pensotti
Inszenierung: Mariano Pensotti,
 Bühne und Kostüme: Mariana Tirantte, Musik und Sounddesign: Diego Vainer, Licht: Alejandro Le Roux.
Mit: Horacio Acosta, Elisa Carricajo, Valeria Lois, Javier Lorenzo, Marcelo Subiotto.
Länge: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at
www.marianopensotti.com

 

Kritikenrundschau

Beeindruckend und vor allem mitreißend findet Isabella Reicher vom Wiener Standard (25.5.2013) die verschränkte und verdichtete Form der Inszenierung. In der Wiedergabe klinge der Abend deutlich komplizierter, als er auf der Bühne daher komme. Das Stück führe die vier Protagonisten, ihr Umfeld und ihre Projekte der Reihe nach ein. "Im weiteren Verlauf verdichten sich Zusammenhänge zwischen Leben und Einzelwerk, beginnen Motive – so wie die Schauspieler – zu zirkulieren. Es geht um die Generationen, um Verluste und Gespenster aus der Vergangenheit, und vor allem darum, wie Leben und Werk ineinandergreifen: Der todkranke Gabriel fügt heimlich Autobiografisches in seinen Film, gleichzeitig wird sein Hauptdarsteller auch im Leben sein engster Vertraute."

"Ein kleines Festwochenmeisterstück", schreibt Petra Paterno in der Wiener Zeitung (25.5.2013). Aus der "konzeptuell reizvollen Kollision der Medien – Film hält Geschichten dauerhaft auf Celluloid fest, Theater ist flüchtig wie das Leben selbst" – forme Mariano Pensotti eine "launige, mitunter ins Melodramatische abgleitende Handlung". Fünf Schauspieler spielten "ohne Kostümwechsel zig Rollen, die unaufhörlichen Identitätswechsel auf der Bühne werden durch einen Erzähler plausibel gemacht, die raschen Szenen- und Ortswechsel anhand weniger Requisiten etabliert, die unterschiedlichen Handlungsstränge formidabel verwoben."

"Beständige blitzschnelle Rollenwechsel begeistern, die Geschichten freilich wirken konstruiert", so Martin Lhotzky in einem Überblickstext über das Festwochenprogramm in der Neuen Zürcher Zeitung (13.6.2013), aber das passe zum Thema. "Pensotti führt da auf zwei Ebenen einer Guckkastenbühne mit lediglich zwei Schauspielerinnen und drei Spielern sowie einem anonymen Bühnenarbeiter Fiktion und Realitäten in der Filmwelt zusammen." Man möchte aber durchaus nicht wirklich die Dokumentation über Musicalfilme in der Sowjetunion – eine der Erzählungen – sehen müssen. 

 

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