Glaube Liebe Hoffnung – Andreas Kriegenburg schickt Ödön von Horváths Unglücksmenschlein in Frankfurt am Main durch seine Bildermaschinerie
Das Opfermädchen
von Esther Boldt
Frankfurt am Main, 20. September 2014. Da sind sie wieder, diese Kriegenburg'schen Bleichgesichter mit ihren dunklen Hohlaugen. Sie erklimmen ein Fenster in der Wand, das die Bühne abschließt, drängen sich zusammen und schauen auf die Unglücksgestalt, die auf einer langen Abstiegsrampe vor ihnen liegt: Ein blondes Opfermädchen in Embryonalstellung. Sie liegt auf der übergroßen Fotografie ihrer selbst, nackt und zusammengekauert, das Gesicht vom strähnigen, nassen Haar verhängt und so: gesichtslos.
"Was soll denn aus uns werden", singt der Chor der Hohläugigen dazu aufgeregt, "wenn alle Leute sterben?" Dann steigen die Selbstmitleidigen mit erbärmlich hochgezogenen Schultern in ihren braunen Anzügen oder grauen Kleidern herunter in diese Abstiegswelt und über die Tote hinweg.
Mit diesem Bild ist alles erzählt. Und dabei ist es erst der Anfang von Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Ödön von Horváths "Glaube Liebe Hoffnung", diesem kleinen Totentanz in fünf Bildern. Er eröffnete die neue Spielzeit im Großen Haus des Schauspiel Frankfurt, die vieldeutig mit "Über Leben" überschrieben ist. All jene, die die komplexe Botschaft nicht gleich verstanden haben, werden per Plakat noch mal extra darauf hingewiesen, dass es jeder Mensch nicht nur verdient habe, zu überleben, "sondern zu leben."
Mit der Kafka-Brille gelesen
Auf Nummer sicher gehen will auch Kriegenburg, der versierte Bilderzauberer, Musik- und Geräuschemacher, der hier jedoch wohl allzu routiniert ans Werk gegangen ist. Seine Untergangsgestalten erinnern nicht von ungefähr an andere Schattenaugen, beispielsweise die aus seiner Münchner Inszenierung von Kafkas "Prozess". Ohnehin wird Horváth hier mit der Kafka-Brille gelesen. Aus dieser alptraumhaften Gesellschaftsmaschinierie gibt es kein Entrinnen, unausweichlich stampfen die Mühlen aus Bürokratie, Verwaltung und Gesellschaft das Aufwärtsstreben der Protagonistin Elisabeth in den Boden. Leider fügt die Kafka-Perspektive Horváths Stück nichts Neues hinzu, sondern verdoppelt seine Aussage lediglich auf der ästhetischen Ebene. Und mehr noch: Auch aus Kriegenburgs Regieapparat gibt es für die Figuren kein Entrinnen. Denn er zwingt sie von Anfang an in die tödliche Umarmung einer Ästhetik, in der Rettung gar nicht vorgesehen ist.
Die Bühne ist eine abfallende Rampe, die sich auch zur Ebene erheben kann. Rechts und links an ihrem Rand steht jeweils eine Reihe Tische mit Blechgeschirr, Röhrenradios, Aktentaschen und Schuhen unter industrieschicken schwarzen Lampenschirmen. Alle Schauspieler sind ständig auf der Bühne, und mit ihnen die Musikerin Gaby Pochert. Sie hübscht den Abend wunderbar auf, mit bekanntem Liedgut und Bach-Kantaten, mit denen man natürlich rein gar nichts falsch machen kann. Bachs Kantate "Ich habe genug" wird zum Leitmotiv des Abends und die singende Schauspielerin Franziska Junge schlägt sich hier gut.
Schicksalsergebene Untote
Wie die Bühne erinnern auch die Kostüme an die Entstehungszeit des "Totentanzes" Anfang der 1930er Jahre: Braune Anzüge und graue Kleider, bis zu den Ohren aufwattierte Schultern und gedämpfte Blicke. Diese hier, sagt Kriegenburg damit, die haben sich schon längst abgefunden, die haben sich in sich selbst reinverkrochen. Und mitten hineingeraten in dieses Panoptikum der schicksalsergebenen Untoten ist Elisabeth, und mit ihr ein Fünkchen Widerstand, das sich mit den Gegebenheiten nicht abfinden will. Und doch muss sie als Glückssucherin furchtbar scheitern: Elisabeth, die junge Korsettvertreterin, die sich eine Existenz schaffen will, dabei jedoch keine Unterstützung erfährt, sondern nur Misstrauen und Angst – bis zwei Gerichtsprozesse wegen absoluter Geringfügigkeiten ihr eine Weiterexistenz unmöglich machen. Die Konflikte, mit denen sie zu kämpfen hat, klingen dabei höchst heutig: Wirtschaftskrise, drohende Existenzverluste und soziale Kälte.
Elisabeth ist der einzige noch lebendige Mensch in diesem dumpfen Haufen, im hellen Kleidchen und natürlich ohne Watteschultern. Gespielt wird sie von Lisa Stiegler, mit der Andreas Kriegenburg in Frankfurt bereits in Goethes "Stella" und Tschechows "Die Möwe" arbeitete. Im hohen Ton singsangt sie sich durch die Rolle, säuselt wie nach fern, in die Leere des Raumes hinein. Und wenn sie nicht singt, dann grimassiert sie, ein dämonisches Clownsgesicht, das Gefährlichkeit nur vortäuscht. Ihren Widerstand glaubt man kaum. Und nicht zuletzt wissen wir ja, dass sie am Ende tot daliegen wird, auf der Rampe.
Glaube Liebe Hoffnung
von Ödön von Horváth
Regie, Bühne: Andreas Kriegenburg. Kostüme: Katharina Kownatzki. Licht: Frank Kraus. Dramaturgie: Claudia Lowin.
Mit: Lisa Stiegler, Lukas Rüppel, Felix von Manteuffel, Martin Rentzsch, Till Weinheimer, Viktor Tremmel, Sascha Nathan, Josefin Platt, Michael Benthin, Franziska Junge, Maximilian Meyer-Bretschneider, Gaby Pochert.
Dauer: ca. 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
"Ein sehenswerter Abend", fasst Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen (22.9.2014) zusammen. "Was bei Horváth schon überdeutlich angelegt ist, die krasse Überzeichnung, das Karikaturenhafte, das schlichte Gegenüber von gutem Willen und blankem Zynismus, wird von Kriegenburg und seiner Kostümbildnerin Katharina Kownatzki noch betont. Dennoch gelingt es den durchweg überzeugenden Schauspielern des Frankfurter Ensembles immer wieder für Momente, aus ihrem Kostümverhau auszubrechen und reale Menschen darzustellen." Kriegenburg finde "in seinem Zombiekasperltheater immer wieder Raum für echte Gefühle, die er klugerweise nicht allein auf Elisabeth beschränkt."
" Windschiefe Untote", hat Egbert Tholl für die Süddeutsche Zeitung (22.9.2014) gesehen, "die mit hochgezogenen Schultern und verwachsenen Körpern ein Drama nachspielen, dazu auch die Regieanweisungen einsprechen." Kriegenburgs Sicht auf die Menschen sei "meist die einer desillusionierten, aber zärtlichen Anteilnahme, immer ein bisschen verschroben. Doch wie sich hier langsam aus dem Absonderlichen das wehe Leben selbst herausschält, das ist schon toll."
Andreas Kriegenburg nehme, "es kann einen nicht überraschen und ist doch wieder grandios in der Durchführung, den Horváthschen Untertitel 'Kleiner Totentanz' beim Wort", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (22.9.2014). "Als Trüppchen müder Gespenster treten die Figuren auf, kalkig und hohlwangig im Gesicht." Und die "darstellerischen Leistungen im ansonsten ja maximal durchgeführten Minimalismus" seien "sensationell": Die Schauspieler seien "Typen, karikatureske Typen, aber unverkennbar auch sie selbst. Das ist immer die schaurigste, traurigste und überzeugendste Maskerade."
Kriegenburg finde bei "Glaube Liebe Hoffnung" "einen schönen Dreh, um zu zeigen, wie fantasievoll episches Theater heute sein kann", meint Natascha Pflaumbaum auf Deutschlandradio (21.9.2014) Er erzähle den "Elisabeth-Selbstmord nicht als stringente Geschichte im Sinne von 'Illusionstheater', sondern er baut fünf klingende, bewegte Bilder". Nie erliege "man der Empathie für eine Person, denn kaum ist man 'drin' im Stück, ist man auch schon wieder draußen. So funktioniert Desillusionierung." Kriegenburg wolle "uns eben nicht nur die traurige Elisabeth-Selbstmord-Geschichte erzählen, sondern er will uns am eigenen Leib spüren lassen, was Groteske ist, was Demaskierung, was Entlarvung bedeutet."
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ich bin ja schon froh, dass Sie überhaupt einmal eine Inszenierung gesehen haben. Das ist immerhin ein Fortschritt. Auch wenn Sie wieder einmal ein vernichtendes Urteil über eine Inszenierung fällen, die Sie offenbar nicht gesehen haben.
Hier aber folge ich eher Frau Boldt. Es ist ja durchaus so, dass die Kriegenburgsche Übung formal und ästhetisch formvollendet daherkommt und ihre Gruppenbilder bis zum Ende überragend durchhält. Aber was nutzt die grandiose Form, wenn sie zum Eigentlichen wird. Sie wird so uniform und verschüttet jede Entwicklung, des Stückes und von Personen. Keine Widersprüche, kein auflehnerisches Hadern, kein psychologischer Zwiespalt, die sich anzuschauen lohnten. Alles platt, alles vorhersehbar. Wo bleibt hier im Spiel der Elisabeth von Lisa Stiegler all das, was Glaube Liebe Hoffnung ausmacht, auch vielleicht dann an ungesellig Gesellschaftlichem scheitern lässt? Es ist eine unausgefüllte Rolle, nur ein Knarzen der Gelenke und eine lebensleere Hilfesuche nach Rollenhalt, kein Erschauern durch gestenfein Unausgesprochenes. Nichts geht von der gestanzten Form jeder Geste aus. Die sonst spieltolle Lisa Stiegler ist kaum wiederzuerkennen. Wie Frau Boldt schreibt: alles unglaubwürdig, deshalb auch bleibt der Zuschauer unberührt. Die Inszenierung ist so grandios gescheitert - und deshalb durchaus sehenswert. Weil das Leben reichere Formen anbietet. Formen, die sich nicht selbst genug sind, nicht leer drehen, sondern indem sie über sich hinausweisen, Sprengkraft für Neues bieten.
(Liebe Königin,
manchmal dauert es etwas länger, wenn der Redakteur alleine den Sturzbächen von Kommentaren, Tweets, Texten etc. ausgesetzt ist. Der Freitag ist nun unter "Presseschau" annonciert und verlinkt. Salve jnm)
https://www.freitag.de/autoren/martin-eich/lieber-abstrakt-bleiben