Berlin Alexanderplatz - Schauspiel Stuttgart
Der doppelte Biberkopf
22. September 2024. Franz Biberkopf? Der aus der Haft entlassene Brausekopf geht auch in der Inszenierung von Regisseur Dušan David Pařízek bald im Großstadtleben unter. Sylvana Krappatsch und Rainer Galke teilen sich die Rolle der Figur, die mit Extremen zu kämpfen hat.
Von Thomas Rothschild
22. September 2024. Zwischen Kafkas "Amerika" (1927) und Manns "Buddenbrooks" (1901) am Stuttgarter Schauspiel nun also Döblins "Berlin Alexanderplatz" (1929). Bald ist die Liste der klassischen Moderne abgehakt. Fehlen nur noch Musils "Mann ohne Eigenschaften" und Brochs "Schlafwandler". Das hätte sich Marcel Reich-Ranicki wohl nicht träumen lassen, dass sich die kanonisierten Höhepunkte der (deutschsprachigen) Epik des 20. Jahrhunderts im Medium des Theaters durchsetzen würden. Aber was kann noch verwundern, in Zeiten, in denen man Magermilchpulver als Schnitzel verkauft.
Rein in die Großstadt
Ein Roman mit einem Umfang von rund 500 Seiten in 125 Minuten auf die Bühne gebracht: dazu gehört Mut. Der Bearbeiter und Regisseur Dušan David Pařízek benötigt dafür gerade fünf Darsteller*innen. Und weil ihm das Burgtheater seine "Entdeckung", den Israeli Itay Tiran, weggeschnappt hat, rächt sich der Stuttgarter Intendant Burkhard C. Kosminski mit dem Engagement von Rainer Galke, einem Schauspieler von Format, der zuletzt dem Burgtheaterensemble angehört hat. Unvergessen sein Beitrag zu Pařízeks Adaption von Thomas Bernhards Roman "Alte Meister", noch ehe der Import aus dem Rheinland vom Volkstheater in die Burg übersiedelte. Er teilt sich in seiner neuen Umgebung die Rolle des Franz Biberkopf mit Sylvana Krappatsch. Film- und Fernsehfreunde erinnern sich an Heinrich George und Günter Lamprecht. Die Latte liegt hoch.
Pařízeks Bühnenfassung mit dem Roman zu vergleichen, ihn gar an ihm zu messen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Es scheitert schon daran, dass "Berlin Alexanderplatz" seinen Status, zumindest so sehr wie seiner Fabel, seiner Machart – der Einführung der Montagetechnik in die Literatur – verdankt. Pařízek versucht ansatzweise szenische Entsprechungen für sie zu finden.
Aus den Zeiten politischer Extreme
Er verzichtet, wenn man von den Sprüchen auf den T-Shirts absieht, auf eine Verlegung in die Gegenwart, die sich in Details durchaus anböte. Deutlich wird das in einem längeren Monolog des Arbeiters Willi, in dessen Rhetorik linke und rechte Klischees aufeinander treffen ("Der Parlamentarismus verlängert das Elend der Arbeiterschaft") und den Michael Stiller in einer Weise vorträgt, die unter die Haut geht. Nebenbei: weiß heute noch jemand südlich von Berlin, was ein Lude ist?
Dieses Solo grenzt ans Kabarett und holt nach, was der Inszenierung im Ganzen fehlt. Pařízek kann sich nicht so recht entscheiden, was ihn mehr interessiert, die individuelle Geschichte des Franz Biberkopf oder das Zeitporträt. Das hat zur Folge, dass diese Literaturadaption erstaunlich steril bleibt, ein Textereignis eher als ein Schau-Spiel.
Die Verdoppelung der Titelfigur, ein Verfahren, das in der jüngeren Vergangenheit ziemlich inflationär angewandt und bis zur Vervielfachung weitergetrieben wurde, dient dazu, verschiedene Aspekte dieser Figur zu verdeutlichen. Manchmal gelingt das, manchmal wird es zur Manier. "Altmodische" Theaterleute mögen einwenden, dass es gerade zur Kunst eines großen Schauspielers, einer großen Schauspielerin gehört, die Gebrochenheit, die Widersprüchlichkeit eines Charakters zu gestalten. Pařízek hat sich für zwei, einen Franz und einen Biberkopf, entschieden. Sie tragen eng anliegende Hauben, die sie eher wie Mephisto oder der Clown Grock aussehen lassen denn wie Döblins unschuldig-schuldigen Kriminellen aus dem Proletariat. Die übrigen Rollen teilen sich mit erkennbarer Freude an der Verwandlung die Ensemblemitglieder Michael Stiller, David Müller und Celina Rongen.
Sylvana Krappatsch, wie stets unter Starkstrom, spricht mit variabler Stimme bis hin zum Falsett wie die Puppe eines Bauchredners. Gelegentlich wird Text vom Bühnenrand her übers Mikrophon zugesprochen, begleitet von Folienbildern zweier Overheadprojektoren. Längere Passagen rezitieren die Darsteller*innen statisch, sitzend oder stehend, frontal ins Publikum.
Mechanik des Verbrechens
In einer berühmten Szene, in der ein Totschlag als mechanisch-physikalischer Vorgang beschrieben wird, steht Franz Biberkopf links mit der Tatwaffe, einem Sahneschläger, hinter ihm die blutüberströmte Ida in Unterwäsche, Franz Biberkopf 2 spricht rechts an der Rampe Döblins Text, dahinter posieren im Halbdunkel die restlichen zwei Schauspieler: Hier kommt die "Bühnenfassung" dem Roman sehr nahe. Bei Reinholds Erzählung vom Berliner Schlachthof gerinnt er zu einem längeren Monolog. Dann wiederum stehen die Schauspieler*innen Seit an Seit und tragen ihren Text vor. Zur Halbzeit dreht sich die Bühne, Wände, die zum Schluss einstürzen, verstellen vorübergehend den Blick auf den offenen, unmöblierten Raum.
Gegen Ende verfällt Rainer Galkes Biberkopf, der inzwischen einen Arm verloren hat und der seine Mieze zu verlieren fürchtet, in einen Schreikrampf. All das Elend in fünf Sekunden. Das ist eine große Szene. Die Farbe dieser Inszenierung, in den Kostümen, dem Bühnenbild und den Projektionen ist meist, passend, grau. Ganz kurz vor dem Ende wechselt Galke in den Dialekt, dem er entflohen ist, dem Wienerischen. Haben wir einen modernen Klassiker vergessen? Ach ja, "Die Strudlhofstiege".
Berlin Alexanderplatz
Von Alfred Döblin
In einer Bühnenfassung von Dušan David Pařízek
Inszenierung / Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Musik: Peter Fasching, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Katja Prussas.
Mit: Rainer Galke, Sylvana Krappatsch, David Müller, Celina Rongen, Michael Stiller.
Premiere am 21. September 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
"Das Regieteam rückt Biberkopf auf die Pelle" und wolle "den Niedergang eines Mannes, der ohnehin schon unten ist, nacherzählen. Und es will zudem die Relevanz des 1929 erschienenen Romans unter Beweis stellen, dabei etwas krampfhaft nach aktuellen Bezügen suchend, die wie in einer dunklen Revue hintereinander abgehakt werden", schreibt Nicole Golombek in der Stuttgarter Zeitung (23.9.2024). "Das Konzept, Berlin Berlin sein zu lassen und sich nur auf die Stationen in Biberkopfs Leben zu konzentrieren, ist mutig, es funktioniert aber nur bedingt, so fabelhaft das Doppel Sylvana Krappatsch-Rainer Galke sich ins Biberkopfzeug legt, die Figur bleibt unterkomplex."
In der Südwest Presse (23.9.2024) lobt Otto Paul Burkhardt den "expressionistischen Drive des Beginns", von dem aber bald wenig übrig bleibe. "Pařízeks Bühnenfassung ist so ein gut zweistündiger Crashkurs durch den Roman, skelettiert auf wenige Schlüsselszenen und radikal reduziertes Personal." Die Regie tue alles, um die bescheidwissenden Deutungen des Romans – als Sozialreport, Milieustudie, Großstadtkrimi und Migranten-Biografie – zu meiden. "Gut so, doch die Doppellösung (mit der Aufspaltung des Protagonisten) wirkt oft konstruiert", so Burkhardt. "Dennoch: Starke, berührende Szenen."
Auch Siegmund Kopitzki vom Südkurier (24.9.2024) ist nicht überzeugt von der zweigeteilten Darstellung Biberkopfs. "Auch wenn diese Konstellation nicht ohne Charme ist: Biberkopf wird auf diese Weise fragmentiert. Wir sehen immer nur die eine Hälfte." Und weiter: "Gelegentlich wird es laut, aber nie leichtgewichtig, trotz eingedampfter Bühnenfassung des Romans."
Grete Götze spricht in der FAZ (25.9.2024) von einem bildstarken, in sich schlüssigen Abend, "in dem fünf Schauspieler lustvoll einen sperrigen Stoff mit etlichen Figuren fast zu einem Kammerspiel destillieren." Obwohl Pařízeks Bühnenfassung den 450 Seiten langen Roman auf 57 Seiten und zwei Stunden zusammenschnurren lasse, hat die Kritikerin den Eindruck, "das Wesentliche erzählt zu bekommen. Weil die Erzählung ohnehin eine zusammengestückelte ist, stört es nicht, dass nicht alles stringent ist in dieser Inszenierung."
Der Anfang komme etwas schleppend daher, dann aber nehme die Inszenierung Fahrt auf, so Christian Gampert von Deutschlandfunk Kultur (21.9.2024). "Das Untergehen in dem kriminellen Milieu der Großstadt Berlin, das wird von allen fünf Schauspielern wirklich großartig dargestellt." Die Reduktion auf die schauspielerischen Mittel habe eine ungeheure Qualität, weil auf einmal klar werde, wie man Psychologie auch im Theater darstellen könne.
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