In den tiefsten Dreck gerissen

3. Dezember 2022. "geschah, geschieht, geschehen wird es sein." Ferdinand Schmalz dichtet die blutige Nibelungensaga feministisch um, und Regisseurin Christina Tscharyiski bietet ein starkes Münchner Volkstheater-Ensemble auf, um der Slasher-Tragödie auf die Spur zu kommen.

Von Janis El-Bira

"hildensaga. ein königinnendrama" von Ferdinand Schmalz © Arno Declair

3. Dezember 2022. Zunächst einmal wurde der Dom in Worms gelassen. Viereinhalb Monate nach der Uraufführung von Ferdinand Schmalz' Nibelungen-Neudichtung vor der mittelalterlichen Festspielkulisse am Rhein sind Brünhild, Kriemhild und Konsorten auf dem harten Boden des Münchner Volkstheaters gelandet. Kein Dom, nirgends, nicht einmal eine solide Burgunderburg. Aufgerissen und karg ist stattdessen die Bühne von Sarah Sassen. Im Rücken ein fast portalhoher, gewölbter Screen, am Boden, man muss genau hinschauen, menetekelnde Lindenblätter. Ein solches, klar, klebte dem Helden Siegfried beim Bad im Drachenblut an der Schulter, weshalb er sich später als doch nicht ganz unverwundbar herausstellen sollte. Alles schon da, alle Zukunft schon unmöglich, noch bevor überhaupt jemand die Bühne betreten hat. "geschah, geschieht, geschehen wird es sein", textet Ferdinand Schmalz. So geht Tragödie, pardon, deutsches Trauerspiel.

"ich will zu dir ins herz"

Auf die Bühne tritt dann zum Glück trotzdem noch jemand. Nämlich er, Siegfried, gekommen, die nordische Eismeerkönigin Brünhild zu freien. Dafür entblättert er schon nach wenigen Minuten seinen eindrücklich V-förmigen Körper. Das Schicksal, beharrt er, sehe diesen Bund vor. "ich will zu dir ins herz hinein", heißt das übertragen in Schmalz'sche Kleinschreibung. Zu eng werde es ihm dort sein, entgegnet die so Umworbene. Jonathan Müller und Henriette Nagel spielen diesen Beginn, als sei es die Begegnung eines YouTube-schlauen Bros mit dem coolsten Girl des Mittelalters – was tatsächlich erheblichen Spaß macht. Und die Liebe lässt natürlich den Schnee schmelzen, noch ehe die burgundische Reisegesellschaft um den lauchigen König Gunther (Julian Guthmann) in Shackleton-Polarklamotten (Kostüme von Svenja Gassen) auftaucht und nun wirklich das Schicksal seinen Lauf nimmt.

Hildensaga 3 ArnoDeclair uIn den Maulwurfstunneln der Burgunderburg: Kriemhild (Nina Steils) und Brünhild (Henriette Nagel) © Arno Declair

Diesem Schicksal die Fäden aus der Hand zu nehmen und sie wieder in die Hände der handelnden Protagonisten, vor allem der Protagonistinnen, zu legen, darum geht es Schmalz in seinem "Königinnendrama". Deshalb erscheinen hier selbst die hinzugedichteten Nornen (Rabea Egg, Clara Fenchel und Cornelia Pazmandi) als helfende Chorgeister; deshalb auch hat er den berühmten Höhepunkt des Konflikts zwischen Brünhild und Kriemhild (Nina Steils), nämlich die Frage nach dem Vorrang beim Eintritt in den Dom, seinem Stück vorangestellt. Erledigt den Hebbel-klassischen, von Männerbünden angestachelten Divenkrieg gleich zu Beginn, dann können die Nornen endlich neue Fäden spinnen.

"packt eure heldentaten und bindet sie wem andren auf"

Regisseurin Christina Tscharyiski hat diese Szene mit ihrem Wormser Lokalkolorit allerdings ausgelassen und verschiebt die Begegnung von Brünhild und Kriemhild auf später am Abend. Ihre Inszenierung will den feministischen Turn der Verschwesterung in Schmalz' Text offenbar nicht überstrapazieren und setzt stattdessen auf die Binnenspannungen starker Ensemblearbeit. Gerade vor der Pause führt das zu beinahe klassisch anmutendem Intensivtheater, wenn die Betrogenen dem um sie herum gesponnenen Komplott in den Maulwurfstunneln der aus dem Unterboden gefahrenen Burgunderfestung nach und nach auf die Schliche kommen. Nina Steils und Henriette Nagel zeigen Kriemhild und Brünhild dabei als Spurensucherinnen in eigener Sache, auf deren auch sexuelle Energie die Männer nurmehr mit Gewalt reagieren können. Die Vergewaltigung Brünhilds durch den tarnkappenbewehrten Siegfried sieht man nicht, doch ihre von Live-Musikerin Cornelia Pazmandi verzerrt durch den Saal geschickten Schreie sind schlimm genug. Mit eisiger Gefasstheit erklärt Henriette Nagel anschließend den Peinigern und der ganzen, stillen Mittäterschaft aus Hofschranzen den Krieg: "packt eure heldentaten und bindet sie wem andren auf. denn ihr werdet von euren hohen rössern in den tiefsten dreck gerissen, dort wo ihr hingehört."

"der wald wird uns nicht verlassen"

So viel Zorn will dann auch Tat werden. Im recht übereiligen zweiten Teil des Abends erledigen die "Hilden" wie Partisaninnen im Wald äußerst zügig die königliche Jagdgesellschaft. Die feinen Details des Textes, die komplexen Abwägungen zwischen den Frauen, ob ihnen diese radikale Gewaltanwendung zusteht, ob sie gar unvermeidlich ist, finden im Getümmel kaum noch ans Ohr. Am Ende überwiegt die Bitterkeit: Auch Kriemhild kommt wieder nicht lebend davon, und selbst Göttervater Wotan (Lukas Darnstädt) kauert angesichts des Blutrauschs seiner Tochter Brünhild ratlos am Boden. Ferdinand Schmalz wollte sich das fast skurrile Slasher-Finale der Hebbel-"Nibelungen" nicht nehmen lassen. Die feministische Revolte seines Stücks wird damit allerdings zwangsläufig naturprinzipienhaft angeleint: "wir werden den wald verlassen, doch der wald wird uns nicht verlassen", bekennt Brünhild ihre Aufklärungsskepsis. Die Inszenierung gestattet sich keinen Widerspruch. Man kann es ihr ja gerade nicht einmal verübeln.

 

hildensaga. ein königinnendrama
von Ferdinand Schmalz
Regie: Christina Tscharyiski, Bühne: Sarah Sassen, Kostüme: Svenja Gassen, Komposition & Live-Musik: Cornelia Pazmandi, Choreografie: Pauline Alpen, Dramaturgie: Rose Reiter.
Mit: Henriette Nagel, Nina Steils, Rabea Egg, Clara Fenchel, Cornelia Pazmandi, Lukas Darnstädt, Jonathan Müller, Julian Gutmann, Max Poerting, Alexandros Koutsoulis, Vincent Sauer.
Premiere am 2. Dezember 2022
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

"Ein durch und durch fantastischer Abend!", jubelt Anne Fritsch von der Abendzeitung (5.12.2022). "Schmalz fasst das alte Lied von Siegfried, Hagen, Gunther und all den anderen vermeintlichen Helden nicht nur in eine starke Sprache, er erzählt die Geschichte ganz selbstverständlich neu." Und zur Inszenierung "Hier stiehlt kein Element dem anderen die Show, was die Worte plastisch vergegenwärtigen, wird nicht durchs Spiel gedoppelt, sondern geschickt durch Bilder ergänzt." Dieser Abend packe alles aus, was Theater könne. "Er ist eine fantastische Ensemble-Leistung."

Schmalz schreibe nicht grundlegend um, "sonst hätte er die Frau sich eher wehren lassen, ihn und Regisseurin Tscharyiski interessieren mehr die Konsequenz aus erfahrenem Leid als dessen Vermeidung. Die Regisseurin zeigt die Gewalt dann nicht, sie lässt sie erzählen", so Christiane Lutz von der Süddeutschen Zeitung (4.12.2022). "Dass die Schauspieler zwischendurch etwas führungslos wirken, die Übergänge unsauber gearbeitet sind und der Nornen-Chor nicht so synchron ist, wie er sein sollte, sind technische Kleinigkeiten. Der kurze Teil nach der Pause allerdings wirkt so gehetzt, als wolle die Regisseurin einfach schnell fertig werden." Die Kritikerin schließt dennoch mit großem Lob für Text, Bühne und Ensemble.

Als Sprachverliebt, wortmächtig und wunderbar rhythmisiert beschreibt Michael Schleicher vom Münchner Merkur (5.12.2022) das Stück. Vor allem der erste Teil der Inszenierung überzeuge. "Tscharyiski inszenierte den Auftakt ohne Firlefanz, konzentriert auf den Text und im Vertrauen auf ihre Schauspielerinnen und Schauspieler. Zu Recht." Der zweite Teil verliere an Spannung und Stringenz – "auch, weil die Regisseurin den Vernichtungszug der Frauen via Schwarz-Weiß-Video aufs Bühnenrund projiziert. Ein (Grusel-)Effekt, der sich rasch erschöpft."

Zwar ende auch Schmalz' ebenso eigenwillige wie einnehmende Neudichtung der Saga im Gemetzel, entscheidend aber sei, dass weibliche Solidarität hier über männlich-sture Nibelungentreue obsiege, so Christoph Leibold vom Bayerischen Rundfunk (5.12.2022).“Christina Tscharyiski hat die 'Hildensaga' effektsicher inszeniert, beweist aber auch feines Gespür für die mundartlich gefärbte Kunstsprache von Ferdinand Schmalz, die einen dem Helden- oder hier eben: Heldinnen-Epos angemessen hohen Ton anschlägt und den Stoff gleichermaßen erdet. Bei aller Game-of-Thrones-Haftigkeit, mit der Tscharyiski die Recken in Szene setzt, macht sie – höchst erfreulicherweise – doch nie mit Pathos alles platt.“

Kommentare  
Hildensaga, München: Hinreißendes Liebespaar
Hinreißend verzaubert von den Siegfried und Kriemhild.
Hildensaga, München: Kurz und knapp
Großartig!
Hildensaga, München: Beeindruckend
Tolles Ensemble. Super Schauspieler. Grandiose Regie. Fantastisches Bühnenbild. Beeindruckende Kostüme.
Hildensaga, München: Kostbare Lebenszeit
Der Beginn lässt hoffen: karge, weite, eisige Bühne, Nebelschwaden wabern, hinter dem Horizont steigt eine Figur empor, kommt nach vorn, eine zweite folgt, später schälen sich zwei Menschen in sackähnlichen Kutten vom Erdboden heraus… ein schöner theatralischer Vorgang, es sollte der letzte gewesen sein. Danach wurden brav die Texte des Autors Ferdinand Schmalz gesprochen. Den Text kann man interessant finden, er schwankt zwischen einer altertümlichen Sprache und der heutigen. Der Text hat jedoch ein ganz erhebliches Manko: er entbehrt jeglicher Möglichkeit an Spiel: es wird berichtet, berichtet, berichtet. Dafür reichen ein paar Stühle vorn an der Rampe!
Die Darsteller haben sich sicher bemüht, ja, aber man merkt doch große Unerfahrenheit. Wer Dagmar Manzel in Krimhilds Rache gesehen hat, braucht keine Erklärung mehr. Hier sind sie dich recht auswechselbar, unterscheidbar an unterschiedlich farbigen Strumpfhosen… weit weit entfernt von Königinnen und Rittern. Hier und da kleine Versprecher, macht ja auch nichts, das kann vorkommen, aber im großen Monolog vor der Pause ist es schon bedauerlich. Das chorische Sprechen bei den Nornen ist jedoch erfreulich, leider darf Norne 1 meist nicht mitspielen, sie muss am Keyboard vorne links Knöpfchen drücken, was der Mann vom Ton spielend leicht mit erledigt hätte. Bei Lauri Anderson in den 80 ern war es noch aufregend, jetzt hat man sich satt gesehen, ist wie kleine Nachtmusik. Und ihr Glitzerkostüm und die Bewegungen lenken von der Handlung ab, man braucht es wirklich nicht.
Brünhild spricht davon, wie sie an den kunstvollen, kultivierten Hof in Burgund gebracht wurde... jedoch, ich sehe ihn nicht, ich finde keine Assoziationen zu dem winzigen, erdigen Maulwurfsbau, die schöne große Bühne bleibt ungenutzt und das Gepiepse wir noch kleinlauter.
Das Inszenierungsteam, ein Damenkränzchen, inszeniert zu vollen Gunsten der Weiblichkeit, die Ritter sind durchweg lächerliche Hampelmänner, so männerfeindlich und eindimensional, so gespalten in die Guten und die Blöden, dass einem die männlichen Zuschauer, die sich nach schwerem Arbeitstag, ihren Partnerinnen zuliebe (denn etwas Kultur soll ja mal sein) abends noch ins Theater schleppen, herzlich dauern. Wer Glück hatte, so wie wir, dem fielen die Augen immer wieder zu und konnte sich dann entschließen, in der Pause zu gehen und kostbare Lebenszeit mit Besserem verbringen, vielleicht mit mehr Fantasie.
Hildensaga, München: Kostbare Erfahrung
@ Petra Schrakel: Der Text von Ferdinand Schmalz mag einem spröde erscheinen, okay. In Worms wurde er Grundlage einer wunderbaren Inszenierung, einer der besten Freilichtinszenierungen die ich je gesehen habe, voller Spielfreude, mit einem sensationellen Ensemble. Alles in Allem eine kostbare Erfahrung.
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