Im Sammeltaxi durchs Kriegsgebiet

20. Februar 2023. Was macht es mit einer Mutter, den eigenen Sohn zum Krieg fahren zu müssen? David Grossmans Erfolgsroman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" zeigt die Wunden Israel in einem generationenübergreifenden Familienpanorama. Armin Petras greift dessen Roadmovie-Elemente in Berlin auf – der Autor scheint einverstanden.

Von Simone Kaempf 

"Eine Frau flieht vor einer Nachricht" in der Inszenierung von Armin Petras am DT Berlin © Arno Declair

20. Februar 2023. 40 Grad Fieber und Ora singt. Oder singt sie nur im Traum? Vielleicht nur ein Fieberwahn auf einer Krankenstation irgendwo in the middle of nowhere, eine leere Quarantänestation, von der fast alle längst entlassen sind. Mit viel Dunkelheit und fahlem Licht, das nicht heller scheinen darf, denn draußen tobt ein Krieg. Der Sechstagekrieg, zu dessen Zeit im Jahr 1967 David Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" beginnt. 

Bilderzauber vor kaltem Material

Eigentlich ist diese Krankenstation nur der Epilog und die Rückblende in die Zeit, als sich die junge Ora und die beiden Männer Avram und Ilan kennenlernen, die einzigen, die noch ausharren auf dem Außenposten. Eine schicksalshafte Begegnung, die sich entspinnt zu einer Dreiecksgeschichte vor den Verwerfungen des Nahostkonflikts. Und Armin Petras macht daraus eine ganz große Szene.

Anja Schneider als Ora sitzt irgendwo ganz hinten im Bühnendunkel auf einer schlichten Krankenbahre. In Nahaufnahme sieht man das Eisen-Gestänge durch Videobilder auf die Bühne projiziert – gespenstische Bilder und es lässt sich erahnen, wie kalt das Material ist. In Nahaufnahme plötzlich auch ein Kopf, bandagiert wie nach schweren Verletzungen. Eine Krankenschwester zerrt dann einen schweren Körper über die Bühne, alles im fahlem Licht in düsterer Stimmung gefilmt, die sich nahtlos ergänzt mit den schwarz-weißen Originalaufnahmen aus den Sechzigerjahren: eine Hochebene mit Staubwolken im Hintergrund, marschierende Soldaten vor der israelischen Flagge, Männer, die verhaftet werden.

Magisches Denken

Mit großen Bilderzauber startet Regisseur Armin Petras seine Inszenierung am Berliner Deutschen Theater, und sie verfehlen ihre Wirkung nicht. Es herrscht Krieg, damals und jetzt, mit Verletzungen, körperlichen und psychischen. Man geht sofort mit, wie Petras die Tür in den Stoff öffnet und eine Stimmung für die Odyssee schafft, die "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" hochkomplex erzählt.

Es geht um eine Mutter, Ora, deren Sohn Ofer sich zu einem Einsatz ins Westjordanland meldet. Sie begleitet den Sohn selber bis in die Kaserne, ein bitterer Moment. "Ich habe meinen Sohn zum Krieg gebracht", wie sie furchtsam erkennt. Ihre bösen Vorahnungen sind geschürt. Jetzt will sie weg, denn wenn sie nicht da ist, kann keine Todesnachricht überbracht werden. Sie geht mit ihrem Jugendfreund Avram, der auch der Vater von Ofer ist, auf eine Wanderung ins Gebirge, um zu entfliehen. Auf der Wanderung erzählt sie vom Sohn. Solange sie von ihm spricht, ist er geschützt, so das zweite magische Denken, die Wette mit dem Schicksal, die die Handlung vorantreibt.

EineFrau3 1200 Arno Declair uAufgekratzt: Anja Schneider, Max Simonischek, Julischka Eichel © Arno Declair

Armin Petras bringt die Geschichte als einen Roadmovie auf die Bühne, inklusive knallgrünem Sammeltaxi, das allerlei skurrile Gestalten freilässt: einen arabischen Taxifahrer mit angeklebtem Bärtchen und sympathisch knurrigem Ton (gespielt von Natali Seelig), eine Reporterin, die überall ihr Mikro reinhält und ungefragt kommentiert (Julischka Eichel) oder Ora selber mit Sonnenbrille und pinkem Trenchcoat. Alle so aufgekratzt in der knallbunten Szenerie, dass die Fahrt zum Militärsammelpunkt eher wie ein lustiger Ausflug wirkt. Wenn dann im Hintergrund während der Fahrt schwarzweiß-Bilder endloser Stacheldrahtzäune und bewachter Grenzstreifen als Video-Projektionen laufen, während die Auto-Insassen sich in die Kurve legen und über Schlaglöcher hüpfen, freut man sich natürlich über solch schöne Petras-Momente, die die Situation fast comichaft überzeichnet und doch offenbar machen, worum es geht: eine Fahrt entlang einer Landschaft, die vom Krieg gezeichnet ist.

Kein Aufbäumen der Vergangenheit

Petras betreibt großen theatralen Bühnenaufwand, mit viel Kulissen- und Kostümwechsel, Live-Musiker und Live-Kameramann auf der Bühne. Die Schauspieler:innen sind zusammen ein eingespieltes Team, gehörten unter seiner Intendanz teils zum Gorki-Ensemble. Natali Seelig spielte sogar bereits in den Stücken, die Petras unter dem Pseudonym Fritz Kater veröffenlichte. Aber dieses trickreiche, aufgekratzte Erspielen führt auch weg vom Ernst des Stoffs und funktioniert nicht, wenn es im zweiten Teil melancholischer wird. Wenn zwischen Ora (Anja Schneider) und der Jugendliebe Avram (Max Simonischek) die Gespräche immer wieder anheben, verstummen und wieder aufgegriffen werden, wenn sie sich annähern und wieder abstoßen müssten.

Anja Schneider ist ein Kraftpaket an diesem Abend, von bester Geerdetheit, sie zieht die Blicke auf sich. Max Simonischek bleibt in ständiger Abwehrstellung, dabei ist Ora doch gerade dabei, ihn aus der Starre erlösen. Die Vergangenheit müsste sich zwischen ihnen aufbäumen und nach und nach sortieren. Aber man spürt wenig von dem komplizierten Beziehungsgeflecht und den tieferen inneren Konflikten, sie kommen einfach nicht ins Rollen, so wie Grossman es großartig im Roman aufgeschrieben hat.

Der lauteste Applaus des Abends gebührt dem Schriftsteller selber. David Grossman ist zur Premiere nach Berlin gekommen. Beim Schlussapplaus erscheint er mit auf der Bühne, ein berührender Moment, als das Publikum ihn erkennt und jetzt wirklich alle für ihn klatschen. Sein Roman, der 2009 erschien, ist ein einmaliges, herausstechendes Kunstwerk. Wie Petras den Roman anpackt, ist zumindest im ersten Teil überzeugend. Aber die Dringlichkeit des Nahostkonflikts vermittelt dann doch nur Grossman selber. Im Programmheft beschreibt er, wie sich die Situation in den vergangenen Jahren verändert hat. Wie die Fanatiker und Fundamentalisten jetzt einen Aufschwung erleben, alle Hoffnungsschimmer schwinden und es im Moment besonders schlimm ist, "die Lage ist verheerend."

Eine Frau flieht vor einer Nachricht
nach dem gleichnamigen Roman von David Grossman in einer Bearbeitung von Armin Petras
Regie: Armin Petras, Bühne: Peta Schickart, Kostüme: Annette Riedel, Musik: Micha Kaplan, Video: Rebecca Riedel, Licht: Robert Grauel, Dramaturgie: Juliane Koepp, Videomitarbeit und Live-Kamera: Rafael Ossami Saidy.
Mit: Julischka Eichel, Kaspar Locher, Anja Schneider, Natali Seelig, Max Simonischek, Tamer Tahan.
Premiere am 19. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.deutschestheater.de


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Kritikenrundschau

"Petras packt das Geschehen in eine Handvoll willkürlich herausgepickter und zerdehnter Bilder, ohne viel darauf zu geben, was sich davon dem Publikum vermittelt. Wer das Buch nicht kennt, ist völlig verloren, aber auch so hat man Mühe, den künstlich verdichteten und abgehackten Dialogsätzen zu folgen. Für die Schauspieler ergeben sich wenig Möglichkeiten, zwischen den durcheinanderpurzelnden Informationen in die Situation zu finden und sie auszuspielen", schreibt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (20.2.2023). "Alles erscheint zufällig, raunend, angerissen, manchmal karikiert und illustriert, aber nichts ist zwingend an diesem quälenden Versuch, der eigentlich heißen müsste: 'Ein Regisseur rennt vor einem Roman weg'."

Eine "etwas ziellose, ein wenig zu sehr vom Spiel mit der Theatereffekttrickkiste begeisterte Inszenierung" hat Peter Laudenbach gesehen und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online am 20.2.2023): "Etwas befremdlich in Petras' sonst so angenehm pathosfreiem Theater ist das vierte Stilmittel, die große Schmerzarie von der Front. (...) Diese Theatralisierung des Krieges hat etwas sehr unangenehm Wirkungssüchtiges." Von der Gewaltgeschichte ihres Landes traumatisiert seien sie alle, die Figuren in Grossmans Roman. "Leider ist das in Petras Inszenierung eher eine Behauptung, als dass es ihm gelingt, seine Figuren wirklich in ihren Beschädigungen und enttäuschten Hoffnungen zu zeigen."

Armin Petras "erlaubt sich als Regisseur kaum je einen Funken Empathie und das wird ihm auch an diesem Abend zum Verhängnis", berichtet Barbara Behrendt für rbb|24 (21.2.2023). "Die meisten Szenen kommen bewusst unzusammenhängend daher, sind laut, grell, artifiziell und kratzen nur an der Oberfläche." Fazit: "Bei so viel Holzhammeraktionismus und unzusammenhängenden Szenensplittern bleibt von drei Stunden Theater kaum etwas hängen. Und das bei dieser hochemotionalen Vorlage. Ein Jammer."

Ein "schnodderiger Roadmovie" sei Armin Petras gelungen, befindet Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.2.2023). "Alles wuselt durcheinander und überlagert sich, und wer den Roman nicht kennt, dürfte inhaltlich bald die Orientierung verlieren. Die viele Musik, die all das untermalt, soll wahrscheinlich atmosphärisch sein und ist doch nur kitschig. Das ästhetische Vokabular, das Petras seit Jahren benutzt, ist inzwischen altbacken und flach – trauriges Regietheater von vor mindestens zwanzig Jahren."

"Man kennt diesen typischen Petras-Sound, der durchaus passen kann für bestimmte Stoffe", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (22.2.2023). "Hier tut er es leider nicht." Überall scheine es an diesem Abend irgendwo zu flimmern, ständig werde etwas gesendet, man habe arge Orientierungsschwierigkeiten im Parkett zwischen all den Bild-, Ton- und Informationsüberlagerungen. "Der Text selbst wird darunter geradezu verschüttet."

Kommentare  
Eine Frau flieht, Berlin: Zwei Hälften
Wie unterschiedlich die Erfahrungen des Abends doch sein können. Der erste Teil unsinnlich, medial entfernt, zerstückelt. Der Wunsch den Roman Roman sein zu lassen oder einen Film daraus zu machen. Theatral direkt entsteht nichts. Alles wirkt gewolltes Ideen/Bildersetting, weit entfernt, nicht einladend.
Der Applaus in der Pause dem angemessen müde und fragend.
Im Foyer fragende Blicke.
Soll man gehen oder oder sich dem nochmals aussetzen.
Der zweite Teil das völlige Gegenteil: sinnliches Theater. Die Drehbühne dreht sich in unglaublicher Langsamkeit einmal. Die Reise entsteht, die Schauspieler sind konkret fassbar, die Geschichte entwickelt einen Sog. Wunderbare Momente der Stille. Hier macht eine Romanadaptierung sind, da es auf die ursprünglichen Mittel des Theaters vertraut.
Eine Frau flieht, Berlin: Ohne Lektüre keine Chance
Hektisch und zerfahren wirkt das Geschehen voller Zeitsprünge vor allem während der ersten Hälfte. Leider fand Armin Petras keinen schlüssigen Weg, die mehr als 700 Seiten in einen knapp dreistündigen Theaterabend zu transformieren. Seine Inszenierung steht nicht für sich. Ohne Lektüre der Vorlage findet man sich kaum zurecht.

Während Petras-Stammspielerin Julischka Eichel oder Natali Seelig zwischen zu vielen Sidekick-Figuren springen müssen, können sich Anja Schneider und Max Simonischek immerhin auf zentrale Figuren konzentrieren. Auch hier wirken viele Dialoge oder Szenen zu sehr aus dem Kontext gerissen, am ehesten lässt sich noch an Schneiders Figur der Ora andocken, die sich sorgt, dass ihr Sohn nicht mehr aus dem Kriegseinsatz heimkehren könnte. Deshalb flieht sie in die Berge, damit die befürchtete Todesnachricht sie in der Abgeschiedenheit nicht erreichen kann.

Kurz vor den Corona-Lockdowns inszenierte Dušan David Pařízek den Roman im Malersaal des Schauspielhaus Hamburg als minimalistisches Kammerspiel, also auf ganz andere Art als im Petras-Zeichen- und Bildergewitter. Richtig zu fassen bekamen ihre Vorlage beide Abende nicht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/03/04/eine-frau-flieht-vor-einer-nachricht-deutsches-theater-berli-kritik/
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