Ich nehm dir alles weg. Ein Schlagerballett - HAU Hebbel am Ufer
Glücklich wie noch nie
19. September 2024. Pina Bausch meets Humba Täterä: Joana Tischkau, Expertin für die Abgründe des Schunkel-Showbiz, mixt sich am Berliner HAU einen Tanzabend der schroffen Gegensätze. "Ich nehm dir alles weg – Ein Schlagerballett". Mit Nelken und Baseballschläger.
Von Elena Philipp
19. September 2024. Schlager – das sei kein musikalisches Genre, sondern einfach die Übersetzung des englischen Begriffs "Hit" ins Deutsche. Hit, wie vom Schlag getroffen.
Als er das sagt, wiegt Moses Leo mit gewinnendem Lächeln und böse blitzendem Blick den Baseballschläger in seinen Händen. Holt aus und drischt auf einen imaginären Gegner ein, elegant wie die Hauptfigur einer britischen Historienschmonzette mit seinem roten Samtjackett, der weißen Rüschenbluse und den schwarzen Hosen. Schlager: "eine positive Form von Gewalt". Mit dieser kreativen Etymologie, einem "falschen Freund", startet Joana Tischkau am Berliner HAU in ihr "Schlagerballett".
Schunkelsongs statt Jazz-Trompete
Dafür greift sie tief in die Plattenkiste, die sie seit ihrem Studium in Gießen mit den Werken Schwarzer deutscher Künstler*innen bestückt. Entsprechend viel U-Musik enthält diese Hitparade – Schwarze im Showbiz, das ist Tischkaus zentrale, am Material belegte These, waren auf die Unterhaltungsecke abonniert.
Im nomadischen Ausstellungs- und Veranstaltungsformat des Deutschen Museums für Schwarze Unterhaltung und Black Music präsentiert Joana Tischkau seit 2020 gemeinsam mit der Regisseurin Anta Helena Recke, dem Komponisten und Musiker Frieder Blume und der Dramaturgin Elisabeth Hampe Artefakte und Geschichten rund um diese große und im öffentlichen (bundes-)deutschen Gedächtnis lang völlig ausgeblendete Gruppe.
In Tischkaus Hitparade mit dem Titel "Ich nehm dir alles weg" tritt unter anderem Marie Nejar auf, die in den 1950ern als schon etwas älterer Kinderstar unter einem rassistischen Künstlerinnennamen performte. Als ihr queeres Alter Ego erklärt Sidney Kwadjo Frenz mit kokettem Kopfneigen und "tall energy" im weißen Glitzerkleid, dass er diesen Namen abgelegt habe.
Deborah Macaulay, in Hotpants und einem abstrahierten rot-weiß-karierten Dirndloberteil, stellt sich in bemühtem Bairisch als Billy Mo vor, der als "Schwärzester Bayer der Welt" in die Annalen der Schlagergeschichte einging ("seit ich Bier und Radi kenn / da fühle ich mich alright"). Starstatus erlangte der promovierter Musiker und Jazztrompeter in Deutschland mit Schunkelsongs wie "Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut" oder "Humba Täterä". So weit, so kläglich – und bekannt im Werk von Joana Tischkau.
Pina Bausch als Ikone deutscher Innerlichkeit?
Für ihr "Schlagerballett" greift sie auf die von ihrer Mitstreiterin Anta Helena Recke im Schauspiel bekannt gemachte Kopiertechnik zu, aber noch auf eine weitere Quelle: Pina Bauschs Tanztheater. "Das Anagramm meines Vornamens ist Pain", stellt sich Sophie Yukiko vor, tiefschwarz umrandete Augen und Bardot-Blick, rauchige Stimme zur qualmenden Zigarette.
Sind Bauschs Inszenierungen für Tischkau das Pendant zum Schlager auf der Seite der Hochkultur? Ein prominentes Beispiel deutscher Innerlichkeit? Nur bedingt ist das Schlagerballett jedenfalls eine Hommage.
Wir woll'n alle glücklich werden. / Du und ich und er und sie / glücklich wie noch nie!
RamonaTheatral gibt die Referenz einiges her: Die Nelkenreihe der legendären Wuppertaler Kettenraucherin und Choreographin, eine Abfolge einfacher Handgesten, die die vier Jahreszeiten symbolisieren und die als heiterer Schreittanz in ihre liebessehnsüchtige, melancholisch-abgeklärte Abrechnung mit der Operettenseligkeit "Nelken" von 1982 eingewoben war, wird bei Tischkau zu einem Marsch der Messer-Macker: Rapper-Gesten projizieren Stärke, pantomimisch wird eine Klinge zwischen den Zähnen abgeleckt oder gestisch eine Kehle aufgeschlitzt. So stellt Ihr Euch uns doch vor, scheint diese Choreo ins Parkett zu rufen: Jetzt kommen wir Euch holen – und nehmen Euch alles weg. Diesen ganzen Nelken-Quatsch.
Kitschverulkung mit Kippe
Neben den Posen aggressiver Selbstbehauptung gibt's jede Menge Kitschverulkung. Zu seifigem Synthie-Sound singt der stimmgewaltige Sidney Kwadjo Frenz den Ramona-Song "Alles was wir woll'n auf Erden": "Wir woll'n alle glücklich werden. / Du und ich und er und sie / glücklich wie noch nie!", schmalzt er ironisch, angetan nur mit einem Slip und einem "Kleid" aus schwarz-rot-goldenen Luftballons.
Seine Kolleg*innen stecken sich unterdessen eine Kippe nach der anderen an und ziehen die Zigaretten zu kleinen Duo-Choreos weg wie Pina Bausch ihre Glimmstängel. Die Ikone der ätherischen Frauenfiguren, die in fließenden Kleidern über die Bühne schweben, den Luftwesen im klassischen Ballett verwandt, brannte sich den Sauerstoff weg: Diesen Widerspruch spießt Tischkau genüsslich auf.
"Ich nehm dir alles weg. Ein Schlagerballett" ist eine kleine böse Vignette, die auf abendfüllende Länge getrimmt wurde. Die 80-minütige Show hat sich rasch auserzählt, klappt dann aber mit immer noch mehr Szenen nach, einer weiteren Parade der Stars und Sternchen am Mikrofon oder einem Schlagermedley in Badekostümen. Copy-Pasten mit ironischer Distanz zum Material – das haut einen diesmal nicht so richtig um.
Ich nehm dir alles weg – Ein Schlagerballett
von Joana Tischkau
Künstlerische Leitung & Choreografie: Joana Tischkau, Sound: Frieder Blume , Soundassistenz: Kairo Fumilayo Edward, Kostüme: Nadine Bakota, Bühne: Carlo Siegfried, Lichtdesign, technische Leitung: Hendrik Borowski, Mitarbeit Regie: Anta Helena Recke, Produktionsleitung: Lisa Gehring, Produktionsassistenz: Lianne Mol, Ausstattungsassistenz: Marie Göhler, Outside Eye/Input: Mariama Diagne.
Performance & Choreografie: Dayron Domínguez Piedra, Sidney Kwadjo Frenz, Elli Hampe, Moses Leo, Deborah Macauley, Carlos Daniel Valladores Carvajal, Sophie Yukiko, Anne-Kathrin Hartmann.
Premiere am 18. September 2024 im HAU
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.hebbel-am-ufer.de
Kritikenrundschau
"Wer nimmt denn nun wem etwas weg?", fragt Sandra Luzina im Tagesspiegel (19.9.2024, €) mit Blick auf den Titel der Produktion rhetorisch und erklärt: "Tischkau spießt die Projektionen der weißen Mehrheitsgesellschaft mit Hilfe ihrer Schwarzen Künstler auf, will aber zugleich den weißen Blick unterlaufen". Implizit schwinge auch "Kritik an Bausch mit, die zwar schon 1974 mit einem diversen Ensemble arbeitete, dies aber nicht weiter reflektierte". Das Ensemble singe und tanze sich "mit Witz und Verve durch dieses Dickicht an Zuschreibungen", doch "in der Überschreibung des eskapistischen Schlagerkitsches durch zeitgenössische Formen" lauere "schon das nächste Klischee". Auf Dauer sei das "etwas ermüdend".
"Im Großen und Ganzen ist der 70-minütige Abend eine durchaus heitere Veranstaltung", schreibt Michael Wolf im nd (19.9.2024). "Weil der Humor dabei aber meist etwas zu grell und schrill daherkommt, weil das Ensemble etwas zu schwülstig singt, weil sich die Darbietenden in der Parodie allzu sehr verausgaben, transportieren sie stets mit, dass hier nicht einfach etwas veralbert werden soll, sondern auch etwas überwunden werden muss: nämlich die deutsche Populärkultur als ein Machtsystem." Das deutsche Kulturgut Pina Bausch, ein internationaler »Exportschlager«, werde dabei ebenso respektlos behandelt wie das deutsche Showbusiness mit schwarzer Kultur und mit Klischees umging – Wolf deutet das als "Retourkutsche".
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