Prometheus - Dimiter Gotscheff setzt Aischylos in den Sand
Oh Götter, wo seid ihr nur?
von Dirk Pilz
Berlin, 20. Mai 2009. Also gut, angenommen, dies alles ist genau so von Regie und Dramaturgie gewollt. Es soll also so sein, dass Max Hopp als Prometheus, angetan mit einem löchrig roten T-Shirt und derbem Schuhwerk, die Arme bebend von sich gereckt, schweren hohen Tones in den Berliner Sommerabendhimmel die Schmerzensworte "Ich – werd' – dies – Leid – aus – schöpf – en!" schleudert und dabei einen Stierwutblick ins Publikum bohrt, als gelte es eine stumpfe Masse einzig mit den Augen niederzuringen, während hinter ihm, drei flache Stufen höher, Sebastian König als Ein-Mann-Chor diesem Wutgepeitschten in den Rücken staunt, dabei aber nie recht zu wissen scheint, wie ihm geschieht, was ihn wie einen Zoobesucher vor den Gehegen fremder, böser, dunkler Tiere ausschauen lässt. Wie seltsam das ist.
Besser ergeht es ihm auch dann nicht, wenn Hopp an einer hohen, schmutziggelben Stange – in den Sand gesetzt als Symbol für den Prometheus-Felsen – hängt und in höhnisches Selbstverlachen verfällt. "Schwächer als der Zwang ist Kunst" lautet der Satz, den von hier der stumme Himmel empfängt.
Oh, hohe Kunst!
Angenommen also, es soll so sein, dass dieser dauerverblüffte Chormensch neben diesem pathosüberströmenden Prometheus wie der Gottesunkundige vor dem Tabernakel hockt, mag es gar Sinn ergeben, dass er mitunter schon am schlichten Sinn der Prometheus-Worte scheitert: "Schnell beweglich die Mühsal setzt vom einen zum anderen die Zeit sich" spricht er, und der Chor kontert: "Schnell was?", was hier dem Einbruch des Komischen ins Tragische gleichkommt, wie überhaupt an diesem Abend der hohe Leidenston immer wieder von ironischen Zwischentönen unterwandert wird, wenn etwa, rechts oben, vom Baucontainer herab, Thorsten Merten seinen beschlipsten Okeanos "Ja, ja, ja, ich bin da!" sagen lässt, bevor er comicfigurenhaft die Stahltreppenstufen hinabeilt, um Prometheus großäugig den Vorschlag zu unterbreiten: "Erkenne dich selbst und ändre dein Wesen um!"
Gelächel im Publikumsrund, denn wir alle wissen, dass diesem Prometheus alles zuzutrauen ist, nicht aber, sein Wesen umzuändern, das ganz aus Feindschaft zu jenem Zeus gemacht ist, der nie die Szene betritt, aber in dem fernen mythischen Reich, in das wir uns versetzt finden, unausweichlich herrscht, was wiederum alle auch anerkennen, außer eben Prometheus, der folgerichtig, so will es die Sage, an den Felsen geschlagen wird.
Diese Aufgabe übrigens ward Hephaistos übertragen, der eingangs bei Frank Büttner derart ins Jammerbrüllen verfällt, dass wir rasch beginnen, uns Sorgen um seinen Seelen- und Stimmenzustand zu machen. "Was flennst du zwecklos?" sucht Prometheus dies peinvolle Barmen abzukürzen. Das freilich hält ihn nicht davon ab, seinerseits tief in den Jammersumpf hinabzusteigen, um mit Vorliebe den Zeigefinger in die Luft oder den Sand zu rammen und das Fremdwort "Götter!" hervorzustoßen.
Oh, tiefes Leid!
Schöner klagen kann niemand an diesem Abend. Außer vielleicht Io, die spielbeginnend himmelweit oben vom Dach herab einen spitzen Schrei auf uns hinuntersausen lässt und später ebenso spitzschreiend den ebenerdigen Sandspielplatz betreten wird, um dort ihre Schwarzlocken leidgepeitscht zu schütteln.
Io ist die einzig Sterbliche unter diesem Tragödienpersonal, die mit Prometheus das Schicksal teilt, vom Zorne des Gottvaters Zeus gestraft zu werden, nur dass sie nicht wie dieser freiwillig den Widerstand gegen dessen unausweichliche Macht sucht, sondern unversehens in die Rebellenrollen hineingeraten ist. So schaut sie bei Maia Alban-Zapata auch aus – sie ahnt nicht einmal, wie ihr dieses tragische Sein zustoßen konnte.
Angenommen aber, auch dies sei regie- und dramaturgieseits so gewollt, dann haben wir es hier offenbar mit dem Versuch zu tun, die Vorlage gleichzeitig bitterernst und ironiefederleicht zu nehmen. Ist es so, dann ist dieser Abend vor allem ein Lehrstück darüber, dass wir Heutigen offenkundig kaum mehr etwas mit der metaphysischen Reflexionstiefe einer griechischen Tragödie anzufangen wissen. Denn das Bitterernste wirkt hier unfreiwillig komisch, weil den Spielern der Götterglaubensernst fehlt, vielleicht fehlen muss, während das Ironische unbeabsichtigt tragisch gerät, weil solche Ironie im Angesicht der Tragödie dann doch nur davon erzählt, dass Heutigkeitsfiguren für die Tragödiengröße zu eng bemessen sind. Denn tragisch kann nur dort etwas werden, wo es etwas zu verlieren gilt, Göttergunst zum Beispiel.
Und doch, welch' Gott und welch' Leid?
Was hier jedoch überhaupt mit Gott und Zeus und dem Unausweichlichen gemeint sein soll, bleibt das ungelöste Rätsel. Gespielt wird Aischylos' "Prometheus", zu sehen aber ist ein Anstrampeln gegen einen Dramenkosmos, der mit jedem Satz und jeder Geste gleichzeitig behauptet und bestritten wird. Gut möglich, dass dies eine ehrliche Umgangsweise mit dem Großtragischen ist. Allein, wozu die Müh'?
Dimiter Gotscheff, der Regisseur, und Sebastian Kaiser, der Dramaturg, scheinen es selbst nicht zu wissen. Dabei wurde Gotscheff nach seiner Aischylos-Inszenierung der "Perser", vor zwei Jahren am Deutschen Theater Berlin, von einer haltlos begeisterten Kritiköffentlichkeit gleichsam zum alleinseligmachenden Tragödienregisseur heilig gesprochen, weil er seine minimalistische Theaterwucht einzig aus der Konzentrationsmacht des Wortes zu ergründen sucht.
So ist es auch diesmal, und doch ist diesmal fast alles anders. Gemessen an den "Persern" ist "Prometheus" weitaus schmutziger, abgerissener, halbfertiger, was auch am Spielort liegen mag, dem Agora genannten, von Bert Neumann entworfenen "Amfiteatr", einem Open-Air-Holzstufenhalbrund vor der Frontseite des großen Hauses der sanierungshalber geschlossenen Volksbühne.
Genauso gut ist's aber denkbar, dass dieser Abend ungewollt zu einem derart Unentschlossenen, zwischen Kitsch und Pathos, Tragik und Trallala hin und her schwankenden Etwas geworden ist, weil er nicht weiß, was er von sich selbst will.
Man hört das Stadtrauschen vom Rosa-Luxemburg-Platz her, man hört Prometheus klagen. Man sieht ihn als einzigen Aufrechten im Total-Staat des Zeus, man sieht draußen, direkt vor dem "Amfiteatr" das Donnerwort "Vernunft!" auf einem Wahlplakat der Linkspartei – und sucht nach der Verbindung.
Angenommen, dieser Abend hat seinerseits danach geforscht: Er ward wie wir nicht fündig.
Prometheus
von Aischylos, Deutsch von Heiner Müller nach einer Interlinear-Version von Peter Witzmann
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne und Kostüme: Mark Lammert, Dramaturgie: Sebastian Kaiser. Mit: Max Hopp, Sebastian König, Frank Büttner, Thorsten Merten, Maia Alban-Zapata, Trystan Pütter.
www.volksbuehne-berlin.de
Mehr Gotscheff? Im Oktober 2008 inszenierte er Das Pulverfass von Dejan Dukovski. Und ein Buch gibt es über ihn auch schon.
Kritikenrundschau
"Deklamationstheater in Reinkultur" erlebte Jürgen Otten von der Frankfurter Rundschau (23.Mai), was die Sache für ihn "zwar anstrengend aber nicht unmöglich" machte. Denn der Text werde "beinahe mikroskopisch beleuchtet, auf Irrtümer und Unverständlichkeiten hin untersucht, auf seine Tauglichkeit fürs Heute", verbucht Otten auf der Haben-Seite des Abends. Nicht nur Prometheus frage in diesem Zusammenhang, in den Himmel blickend: "Wer ist es, der diese Macht ausübt, die ihn und die Menschen bezwingt? Und wer erlaubt es ihm, dieses zu tun? Gotscheff gibt darauf keine Antwort, auch er scheint ratlos. Er weiß nur, dass der Kampf der Prinzipien immer existiert, der Kampf zwischen (göttlicher) Macht und (menschlicher) Kultur. Und es scheint, als ginge dasjenige Prinzip siegreich vom Platz, das unsichtbar und autokratisch bleibt, nur seine Vasallen schickt gegen diejenigen, die das Demokratische durchsetzen wollen."
Als "fantasievolles Zitat der Urform antiker Theater" würdigt Peter Hans Göpfert in der Welt (22.5.) die "originelle Behelfs-Spielstätte" Agora, die Bert Neumann für die Berliner Volksbühne entworfen hat. Dann widmet sich Göpfert der Heiner Müller'schen "Prometheus"-Fassung in der Inszenierung Dimiter Gotscheffs: "Nicht das Sprachkunstwerk, sondern die aufklärerische selbstbewusste Behauptung des fortschrittlichen Ausnahme-Typen gegen alle Anfechtungen von Mitleid, Ermahnung und Herrschafts-Verdonnerung steht im Mittelpunkt." Darstellerisch aber hinke "die Inszenierung ihrem hochgespannten Konzept hinterher." Max Hopp als Prometheus könne "den außerordentlichen Spannungsbogen seines großen Monologs nicht halten". Einen Höhepunkt habe der Abend bei Trystan Pütters Auftritt als Hermes: "Aasig grienend, mit schneidender Stimme verkündet er von einem seitlichen Dach herab die gnadenlose Unerbittlichkeit des Götterherrschers."
Max Hopp spiele den Prometheus des Aischylos – oder tue vielmehr "das, was der Regisseur Dimiter Gotscheff in dieser Inszenierung damit meint: stillstehen und brüllen", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (22.5.). Zwar spreche sich die Übersetzung von Heiner Müller und Peter Witzmann "nicht gerade leicht, aber durch die Lautstärke wird sie auch nicht verständlicher." Zudem habe Max Hopp, "mit aller Energie und noch mehr Entschlossenheit dem Prometheus auf der Silbenspur, in dieser Inszenierung keinen ideellen Ansprechpartner. Er redet mit dem Boden, mit der Luft, fast mit dem Publikum. Eigentlich allerdings deklamiert er in die innere Leere einer Aufführung, die sich trotz Fortissimo nicht gegen die eintönige Unverbindlichkeit behaupten kann."
Man könne sich in der Bert-Neumann-Agora nicht anlehnen, bemerkt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (22.5.), und sei daher "mit halbem Wahrnehmungsapparat bei den Bandscheiben". Und so sitze man über weite Strecken "seltsam fremd im Hohe-Worte-Regen" des Aischylos/Müller-Textes und sei "alleingelassen mit der Suche nach Bedeutung". Doch dann passiert etwas Seltsames: Während nämlich "die dunklen, in ihrer komplizierten Verknüpfung seltsam eigenlebendigen Worte aus dem Text purzeln und das Gehirn mit dem Einsammeln und Sortieren nicht hinterherkommt, kann es sein, dass man in Trance versetzt wird. In diesen Momenten greift der magische Gotscheff-Kult: Das Echo des eingeschlossenen Urgeschehens bricht aus dem Mythos hervor und bringt in uns späten Erben etwas zum Klingen."
Ein "Geniestreich" sei Bert Neumanns Agora, meint Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (22.5.): "In den besten Jahren hat die Volksbühne wie kein anderes Berliner Haus in den Hauptstadtraum ausgestrahlt", und etwas von diesem durchdringenden Geist sei "jetzt wieder spürbar in Bert Neumanns hochfahrender Bretterbude". Das Eröffnungsstück "Prometheus" habe programmatischen Charakter: "Aus der Übersetzung von Heiner Müller und Peter Witzmann spricht die Auseinandersetzung mit den Utopien und totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts." Für die Fesselung des Prometheus hätten Gotscheff und sein Bühnenbildner Mark Lammert "eine bestechend einfache, symbolische Lösung" gefunden: "eine haushohe Fahnenstange." Und wie die Darsteller "brüllen und skandieren, wird das Sprachstück zum körperlichen Exzess: Frank Büttner windet, quält sich übermenschlich. (…) Max Hopp ist der Schmerzensmann. Er meißelt die Worte mit Zähnen." Die Antike schreie uns an, aber sie habe "uns viel zu erzählen, durch Müller und Gotscheff. Dieser Prometheus von Max Hopp – ist er nicht auch ein Christus? Leidet er nicht für die Menschen, der von Gott gequälte griechische Gott?"
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Bei diesem Prometheus braucht es keine inszenierten Zwischentöne, keine Holzhammer à la Riesen-Ventiltor, Erdhaufen-Fläche & Co., der Zuschauer wird durch den Text in seiner Ursprünglichkeit und durch die strenge Form hohen Verständlichkeit zum eigenen Denken angeregt. Das ist nicht jedermanns Sache und der gemeine Theaterzuschauer lässt lieber für sich auf der Bühne gedacht haben. Während bei den Persern die Feindbilder und Fronten noch klar waren, hat sich nun einiges verschoben. Wem allerdings bei freiem Himmel ohne Wilson-Beleuchtung, Eidinger-Sound oder Herrmann-Bühne nur das Stichwort Sommertheater einfällt... schad.
Was mich ebenso wundert, ist das Lob der Kritiker über die "Perser". Das Stück ist mittelmäßig, im Text wimmelt es von falscher Syntax und permanenten Partizipialkonstruktionen. Wer sich für schöngeistige Literatur interessiert, kommt da nicht auf seine Kosten.
FRANCA hat mir mit jedem Wort aus der Seele geschrieben. ( Es gibt also doch noch Zusammenhänge zwischen Berlin und "Provinz".) Und mir macht es immer wieder Spaß, nach Berlin zu fahren und mir mein Urteil über all das zu bilden, was man dort zu sehen bekommt.
Schade nur, daß das Vergnügen auf so wenig Gegenseitigkeit zu beruhen scheint.
Ein Kunstwerk, und das kann eine Aufführung sein, wirkt durch sich selbst und nicht durch Vergleiche und Referenzen. Der Maßstab sollte das gesehene und erlebte Geschehen sein. Es interessiert nicht ob ein Kritiker mit einem Regisseur Kaffee trinken war, oder ob es woanders schöner wäre/war. Die Kunst ist hier und jetzt, auch für den nichtbezahlten kritischen Zuschauer, der sogar für ein Erlebnis im Theater ein Stück seines Lebens her gibt.
Die Kritik liest sich wie ein Gedicht. Toll, Herr Pilz!
..
So. Jetzt sollte über Inhalte diskutiert werden.