Sonnenkönige in Weiß

von Stefan Forth

Hamburg, 12. September 2020. Der Tod geht um im Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Nachdem er zur Saisoneröffnung im Großen Haus aufs Konto machtpolitischer Männer und verwandter Fanatiker ging, nimmt er einen Tag später im kleineren Malersaal die Gestalt mordender Krankenpfleger und anderer medizinischer Fachkräfte an. Der Autor und Regisseur kennt sich aus auf dem Gebiet: Tuğsal Moğul ist ausgebildeter Anästhesist und arbeitet nach wie vor in Teilzeit an einem Krankenhaus. Er weiß also, was es heißt, wenn ein Arzt sagt: "Wir haben getan, was wir konnten".

Ruhelos im Gesundheitssystem

Auch mit dieser zweiten Uraufführung an einem Wochenende gibt das Deutsche Schauspielhaus die politische Anstalt. Die Kernbotschaft des Abends ist eindeutig: Wenn Krankenhäuser wie Industrieunternehmen gemanagt werden, bleibt der Mensch, bleiben Ärztinnen, Pfleger und Patienten auf der Strecke. Im schlimmsten Fall sogar: die allgemeine Gesundheit. Ruhelos rennt das medizinische Personal den Renditeanforderungen des Systems und dem eigenen Geltungsanspruch hinterher.

Und so werden die Skandale möglich, die die Inszenierung aus dem realen Leben heraus szenisch dokumentiert. Erzählt wird die Geschichte des Ruhrgebietsapothekers, der aus Raffgier tausendfach Krebsmittel gepantscht hat. Der Berliner Krankenschwester, die irgendwann anfing selbst zu entscheiden, wann ein Kranker genug gelitten hatte – und natürlich die des niedersächsischen Krankenpflegers Niels H., der unzählbar viele Menschen zu Tode gespritzt hat, weil er versuchen wollte, sie zu reanimieren und sich im Erfolgsfall als Held feiern zu lassen.

Wirhabengetan2 560 Arno Declair uBlutiger Job: Ensemble im Bühnenbild von Arian Salzbrunn © Arno Declair

Das an sich wäre Drama genug. Der Kunstgriff der Inszenierung besteht darin, diese Geschichten den aufgeregten Schlagzeilen der Gegenwart zu entreissen und sie neu einzukleiden: in Lockenperücke, Wams, Halsbinde, Kniestrümpfe, Glockenrock und Absatzschuhe. Tuğsal Moğul verbindet die großen medizinischen Skandale unserer jüngeren Vergangenheit nonchalant mit der Welt des Barock – und hinterfragt damit ebenso geschickt wie sinnlich unser Verhältnis zu menschlichem Leben und Sterben im 21. Jahrhundert.

Der schöne Schein des Augenblicks

„RESPICE FINEM“ steht zu Beginn des Abends in roten Großbuchstaben auf dem weiß ausgekleideten Boden des Malersaals mit seinen kahlen Sichtbetonwänden. Eine spätmittelalterliche Mahnung, das eigene Handeln von seinem mutmaßlichen Ende her zu denken. Der Schauspieler Christoph Jöde fegt diesen Appell an zielorientierte Lebensklugheit allerdings ziemlich schnell zu einem blutfarbigen Granulathaufen zusammen. Hier wird weder der eigenen Sterblichkeit gedacht noch so etwas Unvorstellbarem wie der Ewigkeit gehuldigt, sondern für den schönen Schein des Augenblicks gearbeitet. Ausstatterin Ariane Salzbrunn spannt effektsicher und stilbewusst den Bogen zwischen den funktionalen Desinfektionsspendern des Jahres 2020 und den verspielten Rüschen des 17. Jahrhunderts. Ein ästhetisches Crossover mit Hang zur augenzwinkernden Ironie, die das todernste Thema mit barocker Lebenslust nahbar macht.

Killer als Sonnenkönig

In ihren stärksten Momenten erzählt die Inszenierung von menschlicher Hybris, wahnhafter Faszination für das technisch Machbare und verzweifelter Selbstüberschätzung. Widerlich aasig toll, wie Yorck Dippe als selbstgerechter Pansch-Apotheker davon erzählt, dass er bei einem Spendenlauf als wichtigster Gönner auf einem Hochsitz thronte und pro vorbeikommendem Läufer einen Euro für ein Hospiz in die Wohltätigkeitsschatulle warf. Der Todbringende gibt generös den Sterbenden. So viel Selbstgefälligkeit hätte wohl sogar Ludwig XIV. imponiert. Nur konsequent also, dass Christoph Jöde den Intensivpfleger Niels H. gleich ganz offensiv als eine Art Widergänger des Sonnenkönigs aufscheinen lässt, in rot glänzenden Pumphosen, Walleperücke und mit weit ausgestellten Armen, der sagt: "Dieses Gefühl, den Tod zu besiegen, das hat mich angefixt." Ein überzeugend normaler Serienmörder mit weiß gepudertem Gesicht.

Wirhabengetan3 560 Arno Declair uRespice finem: Mittelalterliche Mahnung, später zu blutigem Brei gefegt © Arno Declair

Auf den Schrecken des alltäglichen Wahnsinns folgt Musik: Darunter immer wieder Henry Purcell, zum Beispiel dessen "Cold Song". Jemand, der von der Liebe erlöst werden könnte, bittet darum, im frostigen Frieden des Todes bleiben zu dürfen. Ein Song, der längst seinen Weg aus dem Barock in den Pop gefunden hat, weil er Überwältigungspotential besitzt. Umso bemerkenswerter, dass die MusikerInnen des Hamburger Abends um Tobias Schwencke am Cembalo ihren eigenen, unaufgeregt bestechenden Ton finden. Im präsenten Zusammenspiel mit dem singenden Darstellerensemble.

Typen statt Figuren

So berührend die Inszenierung in solchen Szenen aufspielt, so verkopft betont sie doch manchmal ihre Thesen. Statt Figuren behauptet die Regie regelmäßig Typen, was stellenweise Sinn ergibt, wenn es darum gehen soll, dass bestimmte Muster möglicherweise allgemeingültig für ein ganzes System stehen. Nur: "Eine Geschäftsführerin" und "ein Verwaltungsdirektor" einer Klinik chargieren dann doch einigermaßen klischeeorientiert um Gewinnmargen und Privatpatiententum herum. Klar und schlagkräftig allerdings auch hier die Botschaft: Wenn die Bertelsmannstiftung vor gar nicht allzu langer Zeit nahegelegt hat, die Hälfte der deutschen Krankenhäuser könne möglicherweise geschlossen werden, dann sollte uns spätestens die Corona-Pandemie eines Besseren belehren.

Relevant ist der Abend also mit Sicherheit, dicht gebaut ist er auch, gut gespielt allemal. Und doch ist er sich in seiner Kritik an der Ökonomisierung des Gesundheitswesens stellenweise allzu offensichtlich selbstgewiss. Eins steht gleichwohl außer Frage: Als politische Anstalt beweist das Deutsche Schauspielhaus auch mit dieser Inszenierung, dass eine Gesellschaft ohne so ein lebendiges Theater am Puls der Zeit wohl dringend reanimiert werden müsste.

Wir haben getan, was wir konnten
von Tuğsal Moğul
Regie: Tuğsal Moğul, Bühne und Kostüme: Ariane Salzbrunn, musikalische Leitung: Tobias Schwencke, Choreografie: Catharina Lühr, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Yorck Dippe, Ute Hannig, Christoph Jöde und John Eckhardt (Kontrabass), Tobias Schwencke (Cembalo), Swantje Tessmann (Geige/Bratsche).
Uraufführung am 13. September 2020
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause 

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Die Musik ist fantastisch, das Ensemble ist es auch", meint Peter Helling im NDR (13.9.2020). "Absolut glaubhaft spulen sie medizinische Fachbegriffe herunter, eine besonders starke Szene, in der die Geige von Swantje Tessmann die Elektroschocks einer Not-OP simuliert. Das geht beinahe ins Mark." Dennoch hinterlasse das Stück, bei dem der Rezensent sich nicht sicher ist, was uns der Regisseur "damit sagen" wolle "eine Leere": "Handwerklich gut und genau gemacht, wird daraus noch kein gelungener Theaterabend."

Kommentare  
Wir haben getan, Heidelberg: Nicht überzeugend
Online-Gastspiel beim Heidelberger Stückemarkt: Dem kurzen Dokumentartheater-Abend gelingt es nicht überzeugend, seine beiden Erzählstränge vom Optimierungsdruck, unter dem die Kliniken ächzen, und den spektakulären Kriminalverbrechen schlüssig zu verbinden. „Wir haben getan, was wir konnten“ wirft einige Schlaglichter auf die Situation in den Kliniken, verharrt aber in langen Monologen von Yorck Dippe, Ute Hannig und Christoph Jöde zu sehr bei den extremen Einzelfällen der mordenden Pfleger und Schwestern.

John Eckhardt (Kontrabass), Tobias Schwencke (Cembalo) und Swantje Tessmann (Geige/Bratsche) begleiten die Arien des dreiköpfigen Ensembles, das zur Musik von Henry Purcell in Kostüme voller Plüsch und Rüschen gesteckt wurde (Kostüme und Bühne: Ariane Salzbrunn). Warum der Abend über die Missstände in der modernen Medizin ausgerechnet durch Barockmusik und entsprechende Kostüme unterlegt ist, erschließt sich nicht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/05/01/wir-haben-getan-was-wir-konnten-schauspielhaus-hamburg-kritik/
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