Das Schloss - Am Thalia Theater Hamburg hat Antú Romero Nunes für Kafkas Parabel drei Interpretationen parat
Man kann es nicht besiegen
von Katrin Ullmann
Hamburg, 4. Juni 2016. Ein Schaf, ein Huhn, ein Vogelkäfig: Dazu und dazwischen eine Handvoll bizarrer Gestalten mit herausgestülpten, überdimensionalen Körperteilen. Mattrosa Hängebäuche, verfilzte Haare, die Gesichter mehr Maske als Mimik. Ihre Blicke misstrauisch, die Bewegungen verdruckst. Es ist eine degenerierte, bleiche Gesellschaft in einem namenlosen Dorf, inzestiös und debil. Ein grausamer Alptraum. Und doch gibt es einen, der – aller Feindseligkeit zum Trotz – dazugehören möchte: Herr K.
"Ich bin hierhergekommen, um hier zu bleiben ... aus eigenem Willen habe ich mich hier festgehakt." Herr K. ist gekommen, um einen "Kampf" zu führen. Einer angeblichen Einladung folgend, ist er von weither angereist, um im nahegelegen Schloss als Landvermesser zu arbeiten. Doch alle Versuche, mit der Schlossbehörde in Kontakt zu kommen, scheitern. Und so sitzt Herr K. im Dorf fest.
Eine kalt gebellte Einladung zum Mitkommen
"Das Schloss", Kafkas Romanfragment, entstand 1922, wurde 1926 posthum veröffentlicht, vielfach interpretiert und ist doch bis heute ein Rätsel geblieben. Antú Romero Nunes hat "Das Schloss" am Thalia Theater auf die Bühne gebracht und kombiniert gleich drei der möglichen Lösungswege:
Zunächst ist da die Groteske, der Alptraum und auch das Clowneske. In geisterbahnartige Kostümkonvolute steckt Victoria Behr die sieben Darsteller (Lisa Hagmeister, Mirco Kreibich, Thomas Niehaus, Jörg Pohl, Paul Schröder, Cathérine Seifert, André Szymanski) die nicht müde werden, die Zuschauer im Frontaltheater als Herrn K. anzusprechen. Im Wechselbad mit kalt gebellten Feindseligkeiten – "Wir brauchen keinen Landvermesser!" und "Sie sind nicht aus dem Schloss, Sie sind nicht aus dem Dorfe, Sie sind nichts." – laden sie doch immer wieder zum Mitkommen ein.
Auf der stetig rotierenden Bühne ist der Weg zum Schloss selbstredend endlos. Und auch die Erzählung hört einfach nicht auf. Nur der Fokus verschiebt sich allmählich, und aus der im Roman geschilderten Begegnung des Landvermessers mit einem Lehrer und seiner Klasse baut Nunes eine Schultheaterprobe. Probiert wird mehr schlecht als recht natürlich Kafkas "Schloss".
Den dritten Haken schlägt der Regisseur, als er aus der schlaksig-amüsanten Schultheateraufführung voller Schirmmützen einen annähernd existenzialistischen Theaterabend herausschält. Darin entpuppt sich etwa Mirco Kreibich als Landvermesser, der sich einem Ungeziefer gleich fortbewegt, Lisa Hagmeister als lockende Frieda und gewesene Geliebte Klamms, André Szymanski als undurchsichtiger Barnabas und Jörg Pohl als engelsgleich herabschwebender Verheißungssekretär.
Dazu werden in der Bühnenmitte ein paar Stahltürme (Matthias Koch) zusammengeschoben, auf denen die Schauspieler wie auf einer schlecht zitierten M.C.-Escher-Zeichnung einem Ausweg, einem Sinn, einer Richtung nachjagend auf- und abrennen. Dann wird gehangelt und gezappelt und im Schnelldurchlauf K.'s "Schloss"-Geschichte erneut erzählt. Und dann fällt auch der erwartete Schnee.
Uneinnehmbare Festung
Gesehen hat man am Ende also drei Inszenierungsansätze: einen grotesken, eine verspielten und eine psychologisch-existenziellen. Hat sich der Regisseur in der Fülle der Interpretationen etwa fürcherlich verhakt? Zeigt er lehrbuchgleich drei mögliche Auslegungen von Kafkas schier endlosem Vexierbild? Oder will Nunes anhand K.’s Geschichte seine eigenen künstlerische und interpretatorischen Bemühungen als Bühnenereignis sichtbar machen? Seine ermüdende Bewegung auf ein Ziel hin, dass sich während dieser Bewegung als immer unerreichbarer herausstellt?
Dem Leser des "Schlosses" ergeht es beim Lesen schließlich wie Kafkas Protagonisten: Er kann es nicht einnehmen, nicht besiegen. Er kommt nicht hinein. Warum sollte dann der Regisseur?
Das Schloss
nach Franz Kafka
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Johannes Hofmann, Dramaturgie: Matthias Günther.
Mit: Lisa Hagmeister, Mirco Kreibich, Thomas Niehaus, Jörg Pohl, Paul Schröder, Cathérine Seifert, André Szymanski.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
Antú Romero Nunes vermenge seinen üblichen Stil (spielvernarrte, fröhlich die Schauspieler zur Improvisation anstiftende Inszenierungen) mit strenger intellektueller Konzeptarbeit, schreibt Wolfgang Höbel auf SPON (5.6.2016) Heraus komme zwar eine durchaus sympathische, aber auch schwer konfuse Inszenierung. "Das allermeiste Traumtheater ist vom Einschläferungstheater nur einen Tippelschritt entfernt. Schon bei Kafka liest man: 'K. hatte ein kleines Weilchen in einem halben Schlummer verbracht, nun war er wieder aufgestört. Warum dies alles? Warum dies alles?'"
"Nicht durchweg sinnhaft, aber dank seines improvisationsfreudigen Ensembles immer sehenswert", findet Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (6.6.2016) die Inszenierung. Der Regisseur breche "die verrätselte, recht vordergründige Vorlage auf, um sie gleich dreifach zu erzählen". Aus Sicht der Kritikerin erweist sich die von einigem Ballast befreite Version "als plausible Möglichkeit, diesen uneindeutigen Stoff zu fassen. Auch wenn sie von Sinnlosigkeit erzählt, ist sie doch ein stark gespieltes Lehrstück."
"Ein Abend, der, wie der Landvermesser, lange nach Großem strebt und es am Ende, anders als der Landvermesser, auch erreicht," schreibt Stefan Grund auf welt.de (6.6.2016). Der Roman sei Fragment. Nunes antworte auf offener Bühne mit zwei Fragmenten, "zwischen denen, hinter denen die perfekte Interpretation liegt".
Eine Meisterleistung der Kostümbildnerin Victoria Behr seien die grotesken Figuren, "sie passen ins Kafka-Universum so gut wie die Büromenschen, sie treffen nur einen anderen Aspekt des Werkes: das Komische, Perverse und Bedrängende", findet Caroline Rehner in der Zeit (9.6.2016). Nunes setze das teils komisch, teils beklemmend und brutal in Szene. "Dieser Kafka ist bunt und fleischesprall, brutal und komisch. Nunes hat K. aus der Welt der Amtsstuben befreit und ihm Zirkusluft zu schnuppern gegeben. Komisch und verloren wirkt er nun – einer von uns."
"Ein bizarr komisches und zugleich verstörend erbarmungslos wirkendes Unsittengemälde einer archaisch-monströsen fremdenhassenden Gemeinschaft zeichnen Nunes und sein fantastisch spielfreudiges Ensemble in der ersten Stunde des Abends", schreibt Robert Matthies in der taz (11.6.206) "Gelächter schlägt immer wieder in Erschrecken und Ekel um, die slapstickhafte Komik des Maßlosen und Absurden in Brutalität."
Mounia Meiborg von der SZ (16.6.2016) ist enttäuscht. Es wirke, als wolle der Abend auf Nummer sicher gehen. Was dieses "Entweder-oder" jedoch erzählen wolle, bleibe offen. "Fantastische Stoffe kommen Nunes’ Spieltrieb, seiner Vorliebe für Wind- und Nebelmaschinen, eigentlich entgegen. Hier aber herrscht vor allem Flaute."
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