No Horizon - Thalia Theater Hamburg
Sinn, der im Nebel liegt
3. Dezember 2023. Einfach mal nur herumsitzen und nicht aufs Handy starren: Das dürfen die Avatare in dem Metaversum, das ihnen der Regisseur Toshiki Okada als Utopie eingerichtet hat. Bis sie dann doch ein Ungenügen spüren und auf die Suche gehen …
Von Stefan Forth
3. Dezember 2023. Wer wäre nicht gerne manchmal die Problemzonen des eigenen Lebens los? Vielleicht zur Abwechslung einfach nur Kopf sein mit schnieker Frisur, ohne den ganzen schwerfälligen Körperballast darunter. Lange Haare statt Halbglatze! Oder einfach in Ruhe am See sitzen, ohne dauernd ins Handy starren zu müssen? Am Hamburger Thalia Gaußstraße macht der japanische Regisseur Toshiki Okada aus unzufriedenen Menschen Avatare und schickt sie in eine alternative Realität. In ein Metaversum mit dem andeutungsvollen Namen "No Horizon".
Abbild unserer tristen Welt
Was nach grenzenloser Utopie klingt, sieht auf der Bühne der kleinen Thalia-Spielstätte erstmal einigermaßen öde aus. Ein abgeranzter Spielplatz steht da mit würfelförmigem Metallklettergerüst, Rutsche, Bank und Straßenlaterne. An allen möglichen Stellen blättert die Farbe ab, zeugen Flecken vom Alter der Geräte. Früh zieht vom Boden Nebel auf, der bis zum Ende der Inszenierung wabern wird. Schwaches Licht fällt darauf, mal kaltweiß, dann hellgrün, rotschimmrig, gelb.
Als Publikum sehen wir also den ganzen Abend lang nur ein einförmiges Abbild unserer eigenen, tristen Welt. In den Köpfen der Avatare auf der Bühne lassen dagegen angeblich unerschöpfliche Rechnerkapazitäten mit schier unvorstellbaren Bits und Bytes ganz andere Realitätskonstruktionen entstehen: "Diese Welt ist sehr reich an Details und an Auflösung." Was die Figuren behaupten, ist etwas völlig anderes als das, was unsere Augen und Ohren zu erkennen glauben. Haben wir es wirklich mit einer besseren, gar idealen Welt zu tun – oder reden sich die Avatare da etwas zurecht? Ein schönes Spiel mit Wahrnehmungen, das aber leider seinen Zauber schnell verliert.
Nebel, zu flach über dem Boden
Zu offensichtlich und unoriginell ist die Gesellschaftskritik, die der Regisseur und Autor Okada mal mehr, mal weniger unverhohlen in den Raum stellt. So sind in der Utopia "No Horizon" – anders als in der "Welt dort drüben" – Pflanzen "rechtmäßig Seiende". "Hier lässt sich die Welt ja viel leichter als etwas begreifen, das nicht nur auf den Menschen fokussiert ist", wie es die Avatarin namens Weltraum (Maike Knirsch) begeistert grinsend ausdrückt. Kein Wunder: Ist doch "No Horizon" angeblich als mutmaßlich einziges Metaversum nicht kapitalistisch und gewinnorientiert organisiert. Deshalb kann Avatar Covfefe in dieser Parallelwelt auch am See "einfach die Zeit vergessen und nur beobachten", während ihm/ihr in unserer (Publikums-)Realität das Smartphone ein "Doppelleben abverlangt" hat: eine Überforderung der Sinne. Auch das keine besonders überraschende Erkenntnis.
An Stellen wie diesen bleibt der künstliche Nebel leider zu flach über dem Boden hängen, fehlt das Geheimnisvolle, das Undurchsichtige, die Poesie, der subtile Sog – das, was Toshiki Okadas Arbeiten sonst oft ausmacht. Stattdessen wird zu viel erklärt, zu viel in latent monotonen Redeschleifen plakativ gemacht. Wie vergessen werden die Spielgeräte auf der Bühne vor allem in der ersten Hälfte des Abends zur vernachlässigten Kulisse, wenn kaum mal jemand daran herumturnt, und das erzeugt dann vor allem Längen und Leere, aber keine rätselhaften oder gar abgründigen Leerstellen wie etwa in dem überragenden melancholischen Totentanz "Doughnuts", den Okada vor knapp zwei Jahren an gleicher Stelle zur Uraufführung gebracht hat und der sehr zu Recht zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden ist.
Körper als Kraftzentren des Abends
Dabei wirft sich das Ensemble auch in "No Horizon" mit ganzer Kraft in die besondere und an sich wirklich faszinierende Ästhetik, die der japanische Regisseur aus unterschiedlichen theaterkulturellen Vorbildern für sich neu zusammengesetzt hat. Bei Okada sprechen auch die Körper, und wie sie das machen, ist einzigartig. Ausgestellte Bewegungen, die Arme kantig in alle möglichen Richtungen gestreckt, wilde Zuckungen, herausgestreckte Hinterteile und Gliedmaßen. Steffen Siegmund ist ein Meister des filigranen Fingerballetts, der dauernd unter Strom zu stehen scheint, immer bereit für zarten Slapstick, für augenzwinkernde Momente, für kreisende Erkundungen, für starre Augenblicke mit hochgezogenen Schultern – und das, obwohl sein Avatar Kudodes doch eigentlich gar keinen Körper haben soll. Eine feine, grinsende Ironie. Ein Schauspieler in Hochform. Da macht Zugucken Spaß.
Toll auch Sylvana Seddig. Die Tänzerin und Choreografin schleicht sich von der Seite in diesen Abend, baut eine immer stärkere Präsenz auf, bis sie zum Kraftzentrum wird. Als Kiuri ist sie (wörtlich) "der (sic) Schöpfer" dieser Bühnenrealität, eine Art Gott vielleicht, möglicherweise auch ein Geist aus dem japanischen Nō-Theater wie in "Doughnuts", jedenfalls die Gestalt, die das Metaversum "No Horizon" erschaffen haben soll – oder auch nur deren Avatar(in). Je mehr Raum sie einnimmt, umso mehr Tiefe, Unsicherheit und Geheimnis gewinnt der Abend. Auf sie scheint alles zuzulaufen, manchmal wirkt sie wie eine weitaus vitalere Version von Shakespeares Prospero, dem magischen Inselherrscher und Weltengestalter aus "Der Sturm".
Um sie ranken bei den Avataren allerhand Mythen, Gerüchte und Annahmen. Auch für die Musik in "No Horizon" soll sie verantwortlich sein – auch wenn das, was wir als Publikum hören, einmal mehr bei Regisseur Okada von Kazuhisa Uchihashi stammt. Eigens komponierte Klangteppiche, die sensibel auf den Rhythmus von Körpern und Worten abgestimmt sind und die manchmal an Computersounds aus den 90ern erinnern. Atari lässt grüßen.
Persiflage auf die Sinnsuche
Suggestive Musik soll jedenfalls auch die narrativ umwobene Weltenurheberin Kiuri in einem Leuchtturm am Rande des Metaversums erschaffen. Ungefähr das letzte Drittel von Okadas Abend ist einer Expedition von vier Avataren zu diesem mythischen Ort gewidmet. Und auf einmal kommt Leben auf den Spielplatz. Erst erklimmen sie die Rutsche, dann das Klettergerüst, nur um sich letztlich in Badeklamotten in ein Pixelwirrwarr zu stürzen, das das Meer sein könnte oder der Himmel – oder das Ende ihrer Welt. Eine liebevolle Persiflage auf die sinnlose Sinnsuche des Menschen.
Es sind diese finalen Momente der verschmitzt zugespitzten Offenheit, die von der Inszenierung hängen bleiben: Felix Knopp schafft eine großartige zart-traurige Komik, wenn er zögernd und zaudernd zwischen den Gitterstäben des Klettergerüsts steckenbleibt, während alle anderen schon im Bit-Pixel-Himmel-Meer baden. Seine Angst vor allzu großer Erkenntnis der Grenzen des eigenen Daseins kennen wir wohl alle.
Letztlich macht der Abend aber zu viel Nebel um zu wenige Geheimnisse dahinter, wabert zu lange vor sich hin und behauptet über weite Strecken mehr Tiefe als spürbar wird. Wer Spaß hat am Spiel mit Parallelwelten und alternativen Realitäten, dürfte in dem Oscar-prämierten Science Fiction-Film "Everything Everywhere All at Once" inspirierendere, unterhaltsamere und kreativere Einsichten zum begrenzten Reiz der unbegrenzten Möglichkeiten finden. "No Horizon" fährt dagegen zu stark auf Sicht und umschifft leider weitgehend alle potentiellen Problemzonen. Ein Spielplatz, der zu lange im eigenen Dunst steckenbleibt.
No Horizon
von Toshiki Okada
Aus dem Japanischen von Andreas Regelsberger
Regie: Toshiki Okada, Bühne: Dominic Huber, Kostüme: Tutia Schaad, Musik: Kazuhisa Uchihashi, Dramaturgie: Julia Lochte, Makiko Yamaguchi.
Mit: Julian Greis, Maike Knirsch, Felix Knopp, Sylvana Seddig, Steffen Siegmund.
Premiere am 2. Dezember 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.thalia-theater.de
Kritikenrundschau
"Der japanische Theatermacher Toshiki Okada interessiert sich in seiner Theaterarbeit seit jeher für den strauchelnden Menschen im postmodernen Zeitalter", notiert Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (4.12.2023). "Die Sätze wirken gerade zu Anfang oft scheinbar einfach, verkünden mitunter geradezu banal erscheinende Wahrheiten, werden aber zunehmend mit Bedeutung aufgeladen." Es sei "eine große Kunst, wie das spielfreudige Ensemble hier über diese pure Imagination zu glaubhaftem Spiel" finde. Allerdings werde in der ersten Hälfte "sehr lang und mitunter auch langatmig gesprochen", bevor sich Dynamik und Spannung entwickelten, so die Kritikerin.
"Vom Hass in der echten Welt Erschöpfte" fänden "eine tröstliche Idee von der ewigen Pause vor, in die sich dankbar hineinträumen lässt", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (4.12.2023). Der Abend sei ein "absurdes Familienstück", eine "erstaunlich optimistische Pilgerfahrt" und ein "Vier-Freunde-Märchen", "völlig frei von Sex, Gewalt und Horror". Das vorgestellte Exil sei "in der Konsequenz natürlich ein wenig kitschig gedacht, aber in der liebevollen Art der Inszenierung eine echte Aufmunterung".
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"Diese Ausstellung ist leider nicht sehr gut kuratiert, gehen Sie lieber in einen Escape Room." - ich übertreibe, aber so klingt es eben.