Kapitalist in Unterhose

27. November 2022. Der Artikel fehlt: "Der Geizige" heißt am Theater Münster einfach "Geizige" und wird von einem reinen Frauen-Ensemble gespielt. Wie könnte sie also aussehen, eine alte, raffgierige Matriarchin im Stile Harpagons? Doch um diese Frage geht es in Cilli Drexels Inszenierung gar nicht. 

Von Max Florian Kühlem

Teppich ausgerollt für die Schauspielerinnen: "Geizige" am Theater Münster © Sandra Then

27. November 2022. Molières "Der Geizige" heißt am Theater Münster ohne Artikel und damit genderneutral "Geizige". Das Haus kündigt an: "Wir spielen den Klassiker in allen Rollen mit unserem Frauenensemble." Was wäre da alles möglich gewesen! Die Hinterfragung von Geschlechterrollen und –klischees. Die Verschiebung der Figurenanlagen: Wie könnte sie aussehen, eine alte, raffgierige Matriarchin, die ihren Kindern die Butter auf dem Brot (und die ersehnten Homo-Ehen) nicht gönnt und sich in den verlogenen Worten ihrer Schleimerinnen sonnt? Aber man muss leider feststellen: Der Artikel ist weg, aber sonst ändert sich in Münster nichts.

Nun darf man im 400. Geburtsjahr von Molière, dessen Popularität auch auf deutschen Bühnen ungebrochen ist, nicht vergessen, dass er ja nicht unbedingt ein Meister des Tief- und Hintergründigen, der psychologischen Ausarbeitung seiner Charaktere war. "Der Geizige" ist eine Farce im Stil der Commedia dell’arte, die Hauptperson des Harpagon eine Variation des Pantalone; ein geiziger Alter, der eigentlich nur in sein Geld verliebt ist, aber merkwürdigerweise wie sein Sohn die junge Mariane heiraten will.

Typen mit Marotten

Regisseurin Cilli Drexel macht aus diesem Harpagon – wie aus allen anderen männlichen Figuren – eine klassische Hosenrolle. Alle bekommen einen besonders schmierigen, angeklebten Schnurrbart und pomadiges Haar. Katharina Brenner als Harpagon kriegt eine besonders schlimme Hose: Eine weiße, lange, eng anliegende Feinripp-Unterhose, die unter dem violetten Frack, der auch ein etwas feinerer Haus- oder Bademantel sein könnte, nicht bloß hervorschaut, sondern die Hauptsache des Kostüms (Janine Werthmann) bildet. In diesem unmöglichen Aufzug darf sie noch eine Marotte pflegen und in schöner Regelmäßigkeit aus den Tiefen ihrer Kehle lautstark in ein Taschentuch husten.

Geizige4 Sandra ThenOhnmachtsanfall: Rose Lohmann als Mariane, Clara Kroneck als Elise und Agnes Lampkin als Cléante © Sandra Then

Brenner füllt diese Hosenrolle und kostet Molières Gags gut aus, wenn sie etwa selbst im Stile von Harpagons Schleimern die eigenen Vorzüge preist und als einzigen Nachteil das eigentlich ja zu vernachlässigende Leid mit dem Hals anführt – bevor sie einmal mehr zum Taschentuch greift und besonders eklig spuckt. Unter einer Luke im Bühnenboden steht ein Dagobert-Duck-artiger Schatz: Eine mit Scheinen gefüllte, goldene Badewanne, zu dem sie eine erotische Beziehung pflegt wie Gollum zum Ring: In vermeintlich unbeobachteten Momenten steigt sie hinunter und badet im schnöden Mammon.

Die Nähe einer Frau

In den weiteren sie umgebenden Männerhosen stecken Agnes Lampkin als Harpagons Sohn Cléante, der ja ebenfalls Mariane liebt. Was die beiden in ihr sehen, ist in Münster vollkommen unklar, denn die von Rose Lohmann gespielte Rolle bleibt denkbar blass – und dann soll sie ja auch noch besitzlos sein! In einer Pagenuniform steckt Nadine Quittner als Valère, der Harpagons Tochter Èlise (die Clara Kroneck mit toller Gesichtsakrobatik gibt) liebt und es für eine gute Idee hält, in Harpagons Dienste zu treten, um ihr näher zu kommen. Valère und Clèante treten beide auf – es fällt schwer, das anders zu sehen – wie Klischeebilder südeuropäischer Kleinkrimineller. Vielleicht soll das eine Art Bezug auf die Commedia dell’arte darstellen.

Geizige 1 SandraThen uKatharina Brenner als Harpagon und Regine Andratschke © Sandra Then 

Das Bühnenbild von Christina Mrosek kommt fast ohne Requisiten aus, bloß verschieden farbige Vorhänge schaffen unterschiedlich weite Räume. So wirkt die Bühne des großen Hauses oft merkwürdig leer, die sieben Frauen des Ensembles darin verloren und es scheint, als wäre die Idee hinter ihrer Besetzung tatsächlich reiner Proporz, weil in einer weiteren Premiere in der ersten Saison des neuen Schauspieldirektor Remsi Al Khalisi, "Das Vermächtnis", nur Männer spielen. So taugt das Spiel vor allem für die Feststellung, dass Geschlechter vielleicht doch nicht bloß sozial konstruiert sind und es eine andere Energie freisetzt, wenn männliche und weibliche Rollen auch wirklich von Männern und Frauen gespielt werden.

Schlimmer Raffzahn

Die einzig neue Idee der Inszenierung ist ein Videoschirm, der ab und zu von der Bühnendecke gelassen wird, und auf dem die Darstellerinnen kritische Sätze über Erbschaften, Besitz-und Vermögensverhältnisse in unserer Gesellschaft sagen dürfen. Diese Kritik schafft es aber nicht in den Stücktext. Da bleibt Harpagon ein schlechter Kapitalist, weil er sein Vermögen nicht für sich arbeiten lassen will, sondern bloß zusammenrafft, versteckt, heiligt und liebt. Das Münsteraner Publikum, immerhin, liebt diesen Freak und die anderen ihn umgebenden. Am Ende steht einhelliger lautstarker Applaus und Jubel. Mehr braucht sich ein neuer Schauspieldirektor in einer traditionell katholisch-konservativen Stadt vielleicht erst einmal nicht zu wünschen.

Geizige
Komödie von Molière
Regie: Cilli Drexel, Bühne: Christina Mrosek, Kostüme: Janine Werthmann, Dramaturgie: Victoria Weich.
Mit: Katharina Brenner, Agnes Lampkin, Clara Kroneck, Nadine Quittner, Rose Lohmann, Regine Andratschke, Carola von Seckendorff.
Premiere am 26. November 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theater-muenster.com

Kritikenrundschau

Ein "zauberhafter Clou" sei die Besetzung aller Rollen mit Schauspielerinnen, freut sich Alexander Reuter in Die Glocke (28.11.2022): "Es gelingt dem souveränen Ensemble, in fantasievoller Kleidung (Kostüme: Janine Werthmann) schlagfertige Karikaturen zu kreieren, die jeweils zu egoistischer Verirrung neigen, jedoch eine unwiderstehliche Lieblichkeit bewahren." So entstehe eine "moderne Fortführung der schon von Molière geschätzten, wirkmächtigen Commedia dell'arte", die vom Publikum mit dankbarem Applaus quittiert worden sei.

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