Zwang des Materials – Katharina Kreuzhage bringt zum Saisonstart in Paderborn die IS-Studie von Anne Speckhardt und Ahmet S. Yayla auf die Bühne
Endlich beim IS!
von Karin E. Yeşilada
Paderborn, 16. September 2016. Der Vorhang hebt sich und allein auf der dunklen Bühne sitzt ein Mann im Brautkleid (Denis Wiencke). Er erzählt ein Märchen vom Touristen, der mit seiner Gier nach Erdöl den Konflikt in Irak und Syrien auslöst. Die Kriegsgenese des Islamischen Staates als Parabel sich gegenseitig bekriegender Bauern, Schäfer und Fischer, erzählt vom Märchenonkel im Hochzeitsplüsch. Der IS, mächtigstes Terrornetzwerk mit starker Medienpräsenz, würde sich so niemals inszenieren. Das Theater verrückt die gängigen Bilder, und Intendantin Katharina Kreuzhage landet damit gleich zu Beginn einen ersten Coup, eine Ohrfeige gegen die totalitäre islamistische Genderdoktrin.
Innenansichten aus dem Terror-Kalifat
Es ist nicht leicht, den IS effektvoll und gegen die Klischees auf die Bühne zu bringen, weshalb die fast schon spröde Inszenierung der weitgehend im Dunkeln gehaltenen Bühne (Ariane Scherpf) als Garderobenraum mit fünf in der Reihe gestellten Stühlen, auf der die insgesamt vier Schauspieler (neben Wiencke noch Lars Fabian, Claudia Sutter und Stephan Weigelin) Platz nehmen und zwischendurch wie in der Reise nach Jerusalem umherjagen, das Dilemma gut löst. Der im linken Bühnenhintergrund platzierte Glaskasten fungiert abwechselnd als Wohnzimmer mit geblümten Tapeten, als Kommandozentrale, als Rückzugsort, Gefängnis, als Waffen- und Umkleidekammer. Es ist ein inszenierter Blick ins Herz der Finsternis, ins Innere des Terrornetzwerks.
Das Stück will keines sein, es ist eher eine szenische Lesung. Grundlage dazu ist die Studie zweier Wissenschaftler am International Center for the Study of Violent Extremism, Anne Speckhard und Ahmet S. Yayla, die Interviews mit IS-Deserteuren führten. Kreuzhage hatte sich klug die Aufführungsrechte an "ISIS Defectors: Inside Stories of the Terrorist Caliphate" gesichert und das Buch zunächst ins Deutsche übersetzt. In einem langen Arbeitsprozess mit dem Ensemble wurden dann insgesamt vier Porträts für die Inszenierung herausgefiltert und politisch kontextualisiert. Dabei verzichtet die Inszenierung auf die üblichen medialen Beigaben: Es werden weder Videos von Attentaten gezeigt noch Bilder (eine ironische Replik des islamischen Bilderverbots), sondern ausschließlich über den gesprochenen Text gearbeitet. Das ist tatsächlich eine ungewohnte, in ihrer Klarheit höchst effektvolle und über die einstündige Aufführungsdauer nur manchmal ermüdende Materialisierung des schwierigen, allzu medialen Themas.
Theater der Grausamkeiten
Den roten Erzählfaden bildet die exemplarische Geschichte des irakischen IS-Kämpfers Abu Musab, der mit 15 Jahren seinen Vater im Krieg verliert, als Ernährer der Familie vom IS angeheuert wird, zum Kämpfer indoktriniert und ausgebildet wird und den Alltag des IS-Kämpfers mit Aufstehen, Beten und Töten verlebt, bis er von den Grausamkeiten abstumpft. Seine Familie wird er in die Türkei schicken, und weiter mit dem Sold ernähren, den er als Tötungsmaschine erwirbt, bis er schließlich bei einem Drohnenangriff ums Leben kommt. Eingewoben in diese Geschichte werden Episoden anderer Kämpfer, wie die des Kindersoldaten Ibni Omar, der mit elf Jahren zum Rekruten angeworben wird, begeistert beim IS mitmacht und davon träumt, dabei zu sein, und es kaum erwarten kann, endlich auch Gefangene foltern, ja köpfen zu dürfen. Die kindliche Naivität verklärt die unglaublichen Grausamkeiten der Terroristen zu einem großen, tollen Abenteuer, dem schließlich die besorgten Eltern ein Ende setzen, als sie den Jungen in die Türkei evakuieren.
Und es bleibt nicht bei den arabischen Kämpfern; später werden auch die zahllosen Biografien deutscher Islamisten präsentiert, die sich Jahr für Jahr dem Terrornetzwerk anschließen, mehr als 800 Deutsche pro Jahr, darunter muslimische Einwandererkinder ebenso wie deutsche Konvertiten. Auch hier gestaltet die Theaterinszenierung Fakten effektvoll als Wettlauf der Schauspieler gegen einen im Countdown heruntergezählten, immer wieder unterbrechenden Alarmton (Ton: Martin Zwiehoff): Das schier überbordende Material der Biografien vom IS über soziale Netzwerke angeworbener Deutscher, die zu Attentätern werden, wird in den Zeitrahmen gezwungen, erzeugt Panikgefühle, explodiert und löst wohligen Stress aus.
Angstbild Burka
Der Theaterabend ist anstrengend für das Publikum, denn die Schauspieler-Bräute auf der Bühne referieren ungerührt eine schreckliche Untat nach der anderen und muten den Zuschauern einiges an Grausamkeiten zu, ohne dabei jemals die Rolle solcher IS-Kämpfer einzunehmen. Das fördert neben dem gehörten Schrecken großartige Effekte zutage, etwa wenn der Ablauf eines Attentats – in dem Fall der Bombenanschlag auf den Istanbuler Flughafen – qualvoll-minutiös aus der Perspektive der Überwachungskamera berichtet wird.
Spannend der Moment, als sich Claudia Sutter mitsamt Brautkleid in einen schwarzen Niqab kleidet, ihn vor aller Augen Schicht für Schicht anlegt. Das Angstbild "Burka“ als theatralisches Ritual: mühevolles Anlegen der schwarzen Strümpfe, der Schuhe, des schwarzen Überwurfs, Umbinden des Gesichtstuchs, des Kopftuchs, schließlich das Zuknöpfen – und aus der Braut wird die schwarze Madonna. Der Akt erinnert an den Striptease von Neco Çeliks Schwarze Jungfrauen, die sich aus der Vollverschleierung herausschälen. Der theatralische Voyeurismus ist durchsetzt mit Grauen, mit erschreckenden Zahlen und Fakten über die Versklavung und sexuelle Ausbeutung gefangener Frauen und Mädchen durch den IS.
Über den Schauder hinaus
Und doch bleibt am Ende die Frage, wozu das Ganze, welche Erkenntnis diese Innensicht auf das Terrornetzwerk über den Schauder hinaus fördert. Immerhin hat die deutsche Literatur mit den Romanen Sherko Fatahs oder Abbas Khiders Fiktionen über Deserteure des islamistischen Terrors, die man für die Bühne hätte adaptieren können. Kreuzhage ging es aber nicht um die Gestaltung von Fiktion. Ihr Anliegen kommt zum Ausdruck, als Stephan Weigelin für einen Moment seine Rolle reflektierend verlässt. Als Mann im Brautkleid zu spielen, das sei sein kleines Stück Wahrheit, die er dem totalitären Terror entgegensetze. Pietät, Augenmaß, politische Verantwortung seien die Aufgabe des Theaters. Das ist vielleicht kein großer Wurf. Aber ein notwendiges Steinchen im Getriebe deutscher Theaterkultur.
Zwang des Materials
von Katharina Kreuzhage
nach dem Buch "ISIS Defectors: Inside Stories of the Terrorist Caliphate" von Anne Speckhard und Ahmet S. Yayla
Uraufführung
Regie: Katharina Kreuzhage, Bühne: Ariane Scherpf, Kostüme: Matthias Strahm, Ton & Video: Martin Zwiehoff, Licht: Hermenegild Fietz, Dramaturgie: Anne Vogtmann
Mit: Claudia Sutter, Lars Fabian, Stephan Weigelin, Denis Wiencke
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.theater-paderborn.de
"Ein Stück, das keine Verarbeitung anbietet, eine Summierung des Grauens, ein Erlebnisabend ganz brutaler Art, fühlbar, erschütternd, furchtbar", ist es für Ann-Britta Dohle gewesen, die in der Neuen Westfälischen Zeitung (20.9.2016) außerdem schreibt: Der "wortreiche, spielarme Ablauf" von "Zwang des Materials" sei "geeignet für Menschen, die noch immer keine Ahnung haben, was sich hinter dem IS verbirgt, oder die gerne leiden möchten – oder abstumpfen. Oder alles zusammen."
"Aktueller und besser geht es nicht", ruft Dirk Rellecke im Westfälischen Volksblatt (19.9.2016) aus. "Szenische Darstellungen kommen sparsam und dadurch doppelt wirkungsvoll zum Einsatz", berichtet der Kritiker. "Was die wirkungsvollen Worte an Wahrheiten einhämmern, das lassen die gespielten Szenen gekonnt offen, um von der Phantasie der Zuschauer gefüllt zu werden."
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(Völlig richtig, werter Volker53, diese Angabe war ganz verkehrt. Wir haben die Dachzeile verbessert. Vielen Dank für den Hinweis, Christian Rakow / Redaktion)