Onkel Werner - Theater Magdeburg
Vergessener Farbfilm
22. September 2024. Die Idee ist schon mal ziemlich lustig: aus "Onkel Wanja" wird "Onkel Werner" und statt russische gibt's ostdeutsche Provinz. Kein Gut, sondern eine Pension ist der Schauplatz und statt Trägheit gibt's Wutbürgertum. In Magdeburg hat Jan Friedrich Anton Tschechow überschrieben. Eine Premiere am Vorabend der Landtagswahl in Brandenburg.
Von Matthias Schmidt
22. September 2024. Schon das erste Bild sagt: Willkommen in der Klischee-Hölle. Fünf Ostdeutsche stehen vor einer abgeranzten Pension, davor zwei billige Monobloc-Stühle, das Schild "Onkel Werner" handgemalt. Gekleidet sind sie wie Deppen aus dem Unterschichtenfernsehen. Ingo im Jogging-Anzug, Sonja in der Fliessjacke vom Polen-Markt, Werner in zu klein gewordenen Jeans. Die ersten Sätze des Abends – noch sehr nah dran am Original – klingen, als habe Jan Friedrich hier zugleich Tschechow über- und Oliver Bukowski fortgeschrieben. Immerhin eine humorvolle Milieustudie, das wäre ja schon was im Zeitalter der allgemeinen Erkundung des "rechten" Ostens.
Was am Ende daraus wurde? Ein ziemlich diffuser Abend. Immer dann gut und intensiv, wenn er die menschlichen Konflikte der Protagonisten durchspielt. Immer dann zu oberflächlich und ohne Erkenntnisgewinn, wenn er die politische Gegenwart im Land zu thematisieren versucht. Dabei war das die These: Tschechows "Onkel Wanja" in die Gegenwart der ostdeutschen Provinz zu verlegen. Werner, der eine Pension betreibt, der ein Wutbürger geworden ist und offenbar für alles stehen soll, was Jan Friedrich und dem Team irgendwie "rechts" erscheint.
Karrikaturen aus der Bühnen-Pension
Das hätte richtig spannend werden können, herauszufinden, warum immer mehr Menschen, die sich noch vor zehn Jahren für "irgendwie Mitte, vielleicht sogar eher links" hielten, heute die AfD wählen. Was ist da geschehen? Lukas Rietzschel hat es in "Widerstand" zu beschreiben versucht, in der Prosa ist die so genannte Andersartigkeit des Ostens mittlerweile ein eigenes Genre. In "Extrawurst" von Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob geht es zwar nicht ausdrücklich um den Osten, aber so gut wie jedes kleine bis mittlere Theater im Osten hat das heiter professionelle Stück erfolgreich gespielt. Weil es "das Problem" vieler Menschen (nicht nur im Osten) konkret bearbeitet. Und sie damit erreicht. Die vielen, die sich abgehängt fühlen, die nicht mehr grünlinks wählen, die den Berliner-Diskurs-Themen nicht mehr folgen wollen. Obwohl es ihnen gut geht. Und die meistens nicht so aussehen wie die Karikaturen vor der Bühnen-Pension.
In Friedrichs Stück findet die Suche nach Gründen nicht statt, das bleibt dem klugen Soziologen Steffen Mau im Programmheft überlassen. Das eigentlich Interessante wird auf der Bühne noch nicht mal angesprochen. Da sind nur die Folgen zu erleben, die viele auch persönlich kennen – dass sich Mutter und Sohn und Schwägerin und Schwager und Vater und Tochter deftig miteinander streiten, weil sie verschiedener Meinung sind. Am Ende des Stückes steht eine Botschaft. Nach einem privaten (!) Erbstreit mit seiner Schwägerin wird Werner zum Hass-Nazi schockradikalisiert, der plötzlich droht, sie "zu finden und zu jagen". "Wenn die richtigen Leute am Drücker sind, wird hier richtig aufgeräumt", schreit er. Kurz zuvor hatte er noch den ja nicht falschen Satz gesagt, wir seien es einfach nicht mehr gewohnt, verschiedene Meinungen auszuhalten.
Verarmt in die Provinz
Aber nochmal von vorne: "Onkel Werner" firmiert als Tschechow-Überschreibung. Die äußeren Umstände ähneln "Onkel Wanja": die Zeit der Pension geht zu Ende (weil keine Gäste mehr kommen). Es gibt Ähnlichkeiten im Aufbau und der Personage, die sich in der Pension versammelt. Der politische Konflikt – siehe oben. Die menschlichen sind, vorsichtig gesagt, reichlich "konstruiert". Tendenz zu hanebüchen. Ein Beispiel: Werners Schwägerin Alexandra kehrt – nach drei Legislaturperioden für die "Linke" im Bundestag – verarmt (!) in die Provinz zurück, an ihrer Seite ihre deutlich jüngere Geliebte Elena. Michael, ein Notfallsanitäter, der traumatisiert und dem Suff verfallen ist, seit ihm im Krankenwagen ein Syrer (!) verstarb, verliebt sich dennoch in Elena. Bedrängt sie, entblößt sich vor ihr! Wohingegen er die Liebe von Sonja, Alexandras Tochter, unerwidert läßt. Um die Pension zu retten, schlägt Alexandra schließlich vor, sie zu verkaufen und in den Handel mit Kryptowährungen einzusteigen ... Kann man sich nicht ausdenken? Doch, man kann.
Dass die Inszenierung dennoch bejubelt wird, ist dem Ensemble zu danken. Philipp Kronenberg als Sanitäter überzeugt exakt auf dem Grat zwischen Tatendrang und Melancholie. Er ist – besonders im Zustand der Volltrunkenheit – geradezu philosophisch weise (hat aber auch die sprachlich besten Sätze des Stückes). Iris Albrecht als Alexandra ist, wie im Grunde immer, großartig. Souverän, ein Zentrum, ein Grund, selbst dieses Stück zu lieben. Zudem hat sie den Humor-Part, darf mit ihrem Laptop auf Internetsuche gehen im immer noch breitbandunterversorgten Land. Ein Problem, das im Publikum herzhaft lachend wiedererkannt wird. Catherine Stoyan als Werners Mutter versucht, aufrichtig verzweifelt, den Laden zusammenzuhalten, immer eine Flasche Eierlikör in Reichweite. Marie-Joelle Blazejewski und Luise Hart singen "Du hast den Farbfilm vergessen". Ein schöner Moment.
Zurück zu tschechowscher Ruhe
Kurzum, sie geben alles, spielen mit Leib und Seele, liefern Eifersucht und Streit, missverstehen sich, reden aneinander vorbei (oft genug schreiend) – allein, es wirkt bemüht. Auch formal gelingt Jan Friedrich dieses Mal kein Theaterrausch wie in seiner "Blutbuch"-Inszenierung, im Gegenteil. Der erste Akt ist Stehtheater vor der Pension. Zwei und Drei finden in der Pension statt und werden per Video nach draußen übertragen. Man hätte aber auch ohne die Projektion nicht viel verpasst … Dann wird die Kulisse gedreht, und die Pensions-Kneipe weist ins Publikum. Schließlich das ganze nochmal zurück, wobei ringsum die Tapeten abfallen. Fertig. Erlebnisfaktor: mäßig.
Am Ende kehrt Jan Friedrich zu tschechowscher Ruhe und Nachdenklichkeit zurück, die düster-poetische Aufhellung eines Abends, der über weite Strecken ist wie sein Titel – irgendwie putzig, aber an den Haaren herbeigezogen.
Onkel Werner
von Jan Friedrich nach Anton Tschechow
Regie: Jan Friedrich, Bühne und Kostüm: Max Schwidlinski, Musik und Sounddesign: Nicki Frenking, Dramaturgie: Katrin Enders.
Mit: Iris Albrecht, Marie-Joelle-Blazejeweski, Luise Hart, Nico Link, Catherine Stoyan, Philipp Kronenberg, Norman Groll.
Premiere am 22. September 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.theater-magdeburg.de
Kritikenrundschau
Alle auf der Bühne Stehenden machten ihre Sache hervorragend, schreibt Martin Rieß in der Volksstimme (22.9.2024). Dass ihre Rollen fast jedes Klischee bedienten, das Menschen zugeschrieben wird, die sich populistischen Strömungen hingeben, sei hingegen "keine inhaltliche Stärke des Stücks: Längst nicht alle Menschen, die das Vertrauen in die Demokratie verloren haben, sind die Abgehängten, sind die in jeder Beziehung schlecht Aufgestellten. Dass der Populismus, dass antidemokratische Haltungen längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, wird geflissentlich ausgeblendet", so Rieß. Politisch gesehen bringe die Inszenierung also "nicht unbedingt neue Erkenntnisse". Rieß kritisiert außerdem den Einsatz der Videotechnik, der in den meisten Sequenzen "kaum als Bereicherung" wirke. "Stärke spielt 'Onkel Werner' aus, wenn sich das Stück vom Klischeehaften und technisch Überladenen wegbewegt, wenn die Figuren herausgearbeitet werden und wenn ab und zu schwarzhumorig die eine oder andere Unzulänglichkeit im Miteinander und in den Lebensbedingungen auf die Schippe genommen wird."
"'Onkel Werner' befasst sich mit dem sogenannten Rechts- bzw. Linksruck, sexueller Belästigung, Klimawandel und Intoleranz. Dabei wirkt das Schauspiel zu keiner Zeit besserwisserisch, belehrend oder bevormundend. Im Gegenteil, dieses hochaktuelle, wuchtige Stück kommt zuweilen mit entzückendem Witz daher, deutet viele Situationen nur an und lässt den Zuschauer selber denken", schreibt Lena Schubert auf TAG24 (23.9.2024) und bezeichnet die Inszenierung als "Meisterleistung der Dramödie". Jan Friedrichs inszenatorischer Wucht biete das siebenköpfige Schauspielensemble ordentlich Paroli. "105 Minuten Spieldauer verfliegen ruckzuck durch so viel Herz, Witz, Gefühle, Erschrecken und inhaltliche Wucht, die jeden Zuschauer wochenlang beschäftigen wird."
"'Onkel Werner' von Jan Friedrich will die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse hierzulande nicht mehr erklären. Das Stück stellt nur noch einen Zustand vor – eine Katastrophe ohne Ausweg, und das ist radikal in dieser Zuspitzung - und deshalb auch sehr sehenswert", sagt Stefan Petraschewsky auf MDR Kultur (22.9.2024). Das Figurensetting sei vom Tschechow-Original gut abgekupfert und auch witzig variiert. "Das 7-köpfige Ensemble spielt das alles sehr sehenswert, oft überspitzt und holzschnittartig wie im Volkstheater. Ästhetisch fühlte ich mich wirklich an das Hamburger Ohnsorg-Theater der 80er-Jahre erinnert. Es gibt dabei viele Wutausbrüche, viel Geschrei, aber auch leise und psychologisch fein gespielte Szenen."
"Es ist das Psychogramm des AfDlers von vorgestern, das hier nicht ohne großen Klamauk auf der Bühne präsentiert wird", schreibt Erik Zielke von nd-aktuell (27.9.2024). "Die Figurenübertragungen wirken eher beliebig. Dem Rechtsruck kommt man so analytisch nicht auf die Spur. Mehr als ärgerlich, da dieses Thema eine ernsthafte Auseinandersetzung verdient hätte. Mag sein, dass uns die Tschechow’sche Handlung mitsamt ihrem Abstand zu unserer Lebensrealität mehr über gesellschaftliche Verwerfungen hätte erzählen können als dieses ungenaue Abbild unserer Umwelt."
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