Eine monströse Familie

21. Januar 2024. Franz Kafka ist vor hundert Jahren gestorben, am 3. Juni nähert sich der Gedenktag, vermutlich wird es die ein oder andere Inszenierung geben. Lucia Bihler hängt die Latte schon mal hoch, treibt ein Spiel mit Sein und Schein und versetzt die Samsa-Familie im Wiener Akademietheater in ein verzerrtes, expressionistisches Setting.

Von Reinhard Kriechbaum

Franz Kafkas "Verwandlung" von Lucia Bihler am Akademietheater Wien inszeniert © Marcella Ruiz Cruz

21. Januar 2024. Der hoffnungslos verschnittene grell-orange Frack wäre ein Grund, augenblicklich den Schneider zu wechseln. In ihm steckt Gregor Samsa (Paulina Alpen). Hier erwacht er nicht als furchteinflößendes "Ungeziefer", sondern als ein Mensch, für den Sein und Schein, das Ich und die äußere Hülle, absolut nicht mehr zusammen gehen. Der Kopf scheint im Kragen versunken zu sein, wie eine Schildkröte scheint Gregor ihn einziehen zu können. Seine Bewegungen sind grobschlächtig bis tollpatschig. Der Gesichtsausdruck wirkt ungläubig bis trotzig, scheu bis subversiv. Gregor Samsa muss nicht zum Insekt geworden sein, um seiner Umgebung Furcht einzuflößen.

Aber die Familie Samsa ist auch nicht ohne. Auch diesen Leuten eignet Monströses, vor allem wenn sie überdimensionale Masken überstülpen. Vater Samsa (Philipp Hauß) trägt einen gestreiften Pyjama, die Mutter (Dorothee Hartinger) wirkt wie erstarrt in ihrem aufdringlich gelb leuchtenden, bodenlangen Kleid. Das abstehende Blumenkleid von Schwester Grete (Stefanie Dvorak) ist hinaufgerutscht fast auf Brusthöhe, stößt an die übertrieben aufgebauschten pinken Puffärmel. Das sind also allesamt bürgerliche Fratzen, nicht minder bedrohlich als der eines Morgens der "Verwandlung" anheim gefallene Gregor.

Entfremdung und Verzerrung

Die Darsteller streifen die Kostüme auch blitzschnell ab, sind dann als schwarz gekleidete Erzähler im Bühnenvordergrund tätig. In Kafkas Text sind die Gedanken des zum Insekt verwandelten Gregor oft in direkter Rede festgehalten. Hier spricht er nicht, kann oder darf sich nicht mitteilen. Nicht zufällig ist im Programmheft als erstes ein Gespräch mit der Bühnenbildnerin Pia Maria Mackert und der für die originellen Kostüme verantwortlichen Victoria Behr abgedruckt. Die beiden haben ganze Arbeit an Illusion geleistet. Gregors Zimmer: grüne Wände und oranger Plafond, ein metallenes Bettgestell, karge Möblierung. Es gibt Gregor Samsa auch als Puppe, da wirkt er verloren im plötzlich viel zu groß anmutenden Raum.

Was für eine Familie: "Die Verwandlung" mit Stefanie Dvorak, Philipp Hauß, Dorothee Hartinger, Paulina Alpen. In Kostümen von Victoria Behr und im Bühnenbild von Pia Mackert  © Marcella Ruiz Cruz

Das Zimmer existiert aber auch in deutlich kleinerem Format, worin die Schauspielerin entsprechend plump und überdimensioniert wirkt. Ein transparenter Vorhang geht manchmal herunter, doch das Durchscheinende erweist sich als optischer Trick, als Projektion. Dahinter wird blitzschnell umgebaut. Neue Täuschungen, Verzerrungen. Einmal schauen wir scheinbar von oben auf Gregors Bett, auf der Bettkante sitzt seine Schwester.

Wer ist hier der Unmensch?

Lucia Bihlers Erzählung hinter dieser zauberischen "Verwandlung": So sehr sich diese cartoonhafte Dramatisierung an der farbkräftigen Malerei des Expressionismus, vor allem an Ernst Ludwig Kirchner orientiert, zeigt die Regisseurin subtil die Entfremdung innerhalb der Familie und zugleich die Sehnsucht nach Annäherung. Immer wieder tasten Hände zueinander, zucken sie im Moment der Berührung wieder weg. Da geht nichts mehr. Zu lange war Gregor "im Dienst" seiner Familie, hat er sich unbedankt für deren wirtschaftliches Überleben abgerackert. In dieser Zeit hat er sich seiner selbst und von den Seinen entfremdet. Und er ist der Familie fremd geworden. Das ist das Monströse an der Situation.

Einmal ist ein kurzer Text von Bruno Latour eingefügt (aus "Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown", 2021). Da wird darüber sinniert, ob nicht eigentlich Gregors Familie zu Unmenschen geworden sind, "indem sie sich geweigert haben, ihrerseits zu Insekten zu werden". "Haben Klimawandel und Pandemie nicht sie, die sich nicht verwandelt haben, in 'Ungeheuer' transformiert?"

Jonas Hackmann als Kafkas alter ego © Marcella Ruiz Cruz

Ein Gemälde Kirchners hat man zur Familie Samsa verfremdet, und über dieses Bild streichelt Gregor oft sehnsuchtsvoll. "Leise flehen meine Lieder" aus Schuberts "Schwanengesang" ist ein musikalisches Leitmotiv, das in der psychedelischen Musik von Jacob Suske immer wieder anklingt, direkt oder verfremdet. Passt gut zu Kafka, der immer abgründige Schubert...

Unlösbare Geschichte

Apropos Kafka: Der steht selbst auf der Bühne. Jonas Hackmann ist dieser Spielmacher, dem am Ende das Spiel entgleitet. Der in einer Horrorszene gleich von vier Vätern malträtierte Gregor wird schließlich unter einem überdimensionierten Apfel zu Tode kommen und doch wieder lebendig werden. Er lässt seinen Kafka auf der Bühne zurück, der Gaze-Vorhang fällt noch einmal, Gregor steht davor und hebt noch einmal an: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte..." Es ist wohl eine unendliche, eine immer wieder von Neuem sich wiederholende und unlösbare Geschichte.


Die Verwandlung
nach Franz Kafka
Regie: Lucia Bihler, Bühnenbild: Pia Maria Mackert, Kostüme: Victoria Behr, Musik: Jacob Suske, Puppenbau: Simon Buchegger, Puppencoaching: Katharina Halus, Maskenspiel: Mats Süthoff, Licht: Norbert Piller, Dramaturgie: Mats Süthoff, Jeroen Versteele.
Mit: Paulina Alpen, Jonas Hackmann, Stefanie Dvorak, Dorothee Hartinger, Philipp Hauß.
Premiere am 20. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"In der Inszenierung beeindrucken die bildnerischen Entwürfe, etwa die malerische Couture der Familie samt ihrer großen Puppenköpfe. Allerdings lässt Bihler wenig Zeit für deren Betrachtung und führt in ein für die Wirkmächtigkeit von derlei Kunstfiguren unnötig hektisches Spiel, das zusätzlich durch die Erzählhandlung außerhalb des Bildrahmens allmählich betriebswütig wird", schreibt Margarete Affenzeller vom Standard (21.1.2024).

"Wie sich die vorwiegend schweigende Paulina Alpen als Samsa erschrocken in ihrem Bett aufrichtet, Finger wie Fühler bewegt, wie sie sich verbiegt, sich selbst in ihrem neuen Ich ertastend, ist grandios", schreibt Christiane Lutz von der Süddeutschen Zeitung (22.1.2024). Die Kritikerin schwärmt: "Hier ist Raum für Empathie und enttäuschte Hoffnung, das Schicksal dieses Gregor Samsa geht ans Herz." Regisseurin Bihler widerstehe der Versuchung, irgendwas radikal Neues aus der 'Verwandlung' machen zu müssen. "Ob Gregor Samsa depressiv ist, einen Vaterkomplex hat oder ob die Familie die eigentlich Verwandelten sind, sind Betrachtungen, die alle mitschwingen."

Trotz der visuellen Opulenz sei "das Ganze nicht mehr – aber auch nicht weniger – als eine szenische Nacherzählung", so Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.1.2024). "Diese 'Verwandlung' ist vermutlich für Verehrer von Franz Kafka ein Pflichttermin. Alle anderen sollten Lucia Bihlers Inszenierung eventuell doch erst nach der (Wieder-)Lektüre von Kafkas Originaltext anschauen."

 

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