Wer hat Angst vor dem Rausch?

von Christoph Fellmann

Zürich, 25. November 2010. Was für ein tristes Loch. Ein langer Möbelbandwurm gibt, grob zersägt, die mobile Infrastruktur einer Ehe: Couch, Lounge, Bett. Hierhin kehren George und Martha am Theater Neumarkt in Zürich zurück, um ihre Splatterversion einer Ehe aufzuführen und nebenbei das biedere Glück ihrer späten Gäste – Nick und Putzi – zu zertreten. Denn "bis zu einem gewissen Grad können Menschen Demütigungen einstecken, ohne auf der guten alten Leiter der menschlichen Evolution einige Sprossen zurückzufallen", wie es bei Edward Albee heißt. Dieser gewisse Grad wird in seinem "Who's Afraid of Virginia Woolf?" mit sadistischer Lust überschritten; das Stück ist eines der krassesten und wüstesten Ehedramen des Theaterkanons – ganz einfach darum, weil die Eheleute in jedem Moment genau das auch sagen, was sie höchstens denken dürften. "Aber", so Martha zu George, "das hältst du aus, darum hast du mich geheiratet."

Barbara Weber, Hausherrin am Neumarkt, lädt dem Stück allerhand Ballast auf; aber nur, um es im Gegenzug um all seine Angst, seine Wut und nicht zuletzt um seinen Rausch zu erleichtern. Zuerst nennt sie ihren Abend nach Albee ein "Projekt" und gibt ihm den auf aktuelle Dringlichkeit tippenden Titel "Are You Still Afraid of Virginia Woolf?". Sodann besteht das Projekt darin, den Text von George und Martha zum Teil an zwei weitere Darsteller weiterzureichen, die im Anwesen des Paars umgehen - als Alter Egos, als Einflüsterer, als Spiegel, als Geister von Richard Burton und Elizabeth Taylor...

Kennerische Genüsslichkeit

Die Aktion ist nicht bloß auf das Huis clos des Wohnzimmers beschränkt, sondern kommt per Videobeam auch direkt aus den Büros, Bars, Toiletten und Hinterhöfen des Theaters. Ziel sei es, weiß das Programmheft, "das Spiel auf das Publikum auszuweiten und die Grenzen zwischen Theater und Wirklichkeit zu verwischen." Nun, darum ginge es eigentlich ja auch im Stück, in diesem publikumswirksamen Schaukampf zwischen zwei verzweifelt Verstrickten – aber hey, warum daraus nicht eine Schlacht der Theatertricktechnik machen?

Das geht umso konsequenter ins Leere, als Weber ihr Ensemble in ironischer Distanz durch die Dialoge scharwenzeln lässt – den bummelwitzigen Nick (Jakob Leo Stark) ebenso wie seine dröge Putzi (Franziska Wulf), den schnöseligen George (Malte Sundermann) ebenso wie die dauerblaffende Martha (Tabea Bettin). Alle spielen sie den im Grunde ja grausamen Text mit der kennerischen Genüsslichkeit derer, die sich des schauspielerischen Comme-il-faut vielleicht etwas zu sicher sind.

Schnurgerade Grenze zwischen Theater und Wirklichkeit

So wird aus locker hingeschnippter Darstellungskunst schließlich ein bleierner Abend: "Es hat klick gemacht", beschreibt Martha den Moment, als ihr klar wurde, dass ihr George "ein Nichts" ist. Und als ob das noch möglich wäre, kontert George: "Mach's billiger, Martha." Barbara Weber aber wollte ihr Ehedrama nicht billiger, sondern kostbarer. Künstlerisch wertvoller. Metaveredelt. Der Preis, den sie dafür zahlt, ist freilich hoch, schon in dieser Szene: Nämlich mag man ihrer Martha die allerbilligste Tour nicht abkaufen, mit der sie sich kurz darauf an Nick ranschmeißt.

Da hilft zum Ende dann auch kein läppisches Handgemenge und keine mühsam aufgepfropfte Innerlichkeitsnummer mehr – das Resultat ist Harmlosigkeit. Und darüber hinaus das schiere Gegenteil dessen, was man erreichen wollte: eine schnurgerade Grenze nämlich zwischen Theater und Wirklichkeit, und zwar just da, wo die Bühne aufhört und das Publikum beginnt. Denn dort bleibt man – gemessen am Premierenapplaus, der klimpert wie zuvor die Eiswürfel im Whiskyglas – seltsam kühl und unbeteiligt. Was bei diesem harschen, hinterfotzigen und verwirrenden Stoff ja doch einigermaßen erstaunlich ist. Um nicht zu sagen trist.


Are You Still Afraid of Virginia Woolf?
nach Edward Albee
Regie: Barbara Weber, Bühne: Janina Audick, Video: Elvira Isenring, Musik: Arvild Baud, Kostüme: Inga Timm, Dramaturgie: Michael Gmaj.
Mit: Tabea Bettin, Malte Sundermann, Franziska Wulf, Jakob Leo Stark, Katarina Romana Schröter, Thomas Müller.

www.theaterneumarkt.ch

 

Mehr zu Barbara Weber finden Sie im nachtkritik-Lexikon. Weitere Albee-Inszenierungen gab es am Wiener Burgtheater, inszeniert von Jan Bosse und in Essen, inszeniert von Anselm Weber.

Kommentare  
Still afraid of Virginia Woolf?, Zürich: fürs Establishment?
Von dem Abend bleibt so gar nichts hängen ... eventuell noch, dass man wieder in seine alten Platten reinhören sollte. Virginia Woolf "scare"t also niemanden mehr... das ist also das "Theater fürs Establishment", wie es neu im Logo des Neumarkts prangt?
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