Verlorene Paradiese

9. Dezember 2022. Als hätten die frisch aufgeflogenen "Reichsbürger" sie auf den Plan gerufen, finden sich in Alejandro Tantanians Stückentwicklung nach dem Roman von Roberto Arlt gewaltbereite Umstürzler und Verschwörungstheoretiker ein und grüßen aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu uns herüber.

Von Sabine Leucht

"L7L – Die Sieben Irren" von von Alejandro Tantanian an den Münchner Kammerspielen © Judith Buss

9. Dezember 2022. "Ich bin Michael und ich bin ein Arschloch." Im Kino beginnen so Vorstellungsrunden in Selbsthilfegruppen. Und etwas ähnliches scheint das hier auch zu sein. "Wir müssen uns aneinander festhalten in diesen Zeiten", raunt Thomas Hauser. Er beschwört die Gemeinschaft, schiebt aber dabei einen mächtigen Grant vor sich her, der so wenig zu ihm passt wie der kleinkarierte Strick-Pullunder zum Blumenhemd. Für den ganz und gar nicht welcoming Willkommensredner dieser illustren "Informationsveranstaltung" hat der Schauspieler seine rehkitzartige Geschmeidigkeit rückstandslos abgelegt. Und das einzige, was an ihm jetzt noch funkelt, ist ein schnöder Zorn.

Nicht mal der Alarm habe funktioniert, schnappt er ins Publikum, das am bundesweiten Warntag vor ihm sitzt. Alle Handys haben um 11 Uhr geschrillt. Seines nicht. "Aber vielleicht hätten sie ohnehin besser gestern unsere Kollegen warnen sollen." "Unsere Kollegen", das sind die 23 bei einer Großrazzia festgesetzten mutmaßlichen "Reichsbürger" – einen Tag vor der Premiere von "L7L – Die Sieben Irren" an den Münchner Kammerspielen und wie für diese bestellt.

Demütigungen und Rachephantasien

Denn das Stück, das der argentinische Regisseur Alejandro Tantanian gemeinsam mit dem Ensemble der Münchner Kammerspiele entwickelt hat, breitet die Bausteine vor einem aus, aus denen Verschwörungstheorien, Umsturz- und totalitäre Zerstörungsgelüste bestehen. Mit mehr deskriptivem als analytischem Interesse, ohne historische und geografische Verortung und mit allenfalls einem Hauch Empathie für sein Personal lässt Tantanian dieses von erlittenen Demütigungen erzählen, vom sozialen Abstieg und von Rache- und Gewaltphantasien, bei denen man links und rechts schon mal verwechseln kann.

Erst im Rahmen eines Teambuilding- respektive Rattenfänger-Events, bei dem den Zuschauern die Rolle von Geheimbund-Aspiranten zukommt. Danach in Szenen aus dem Ideen-Roman "Die Sieben Irren" des argentinischen Polizeireporters und Romanciers Roberto Arlt, der schrieb wie George Grosz malte. Das Buch enstand 1929, zeitgleich mit Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" und Michail Bulgakows erst viel später veröffentlichtem "Der Meister und Margarita", und nimmt die Radikalisierung der Gesellschaft vorweg. Hier geraten die "Irren" durchaus folgerichtig; der Roman ist ihr Schlachtplan, ihr Ausweg Richtung Bolschewismus oder Faschismus. Sie sehen die Kunst als "Labor der sozialen Imagination" und die Fiktion als "Schlüssel zum Wandel" an.

Nihilistisches Dickicht

In der Inszenierung war schon das wenig einnehmende Propaganda-Event zu Beginn von Literaten- und abgefälschten Figuren-Namen wie Gerhart (sic!) Biberkopf und Verweisen voll, rief lesende und danach aus ihrem Leben ausbrechende Romanfiguren wie Emma Bovary und Anna Karenina als Zeuginnen auf und feierte die "Schönheit der totalitären Poesie" Paul Éluards. Bernardo Arias Porras schlüpft aus dem Amalgam aus Hans (Castorp & Ludovico) Settembrini in die Rolle von Arlts Protagonisten Remo Erdosain, und das Haus, das die Bühnen- und Kostümbildnerin Oria Puppo in die Therese-Giehse-Halle gestellt hat, wird zunehmend mit Videos geflutet.

L7L Die Sieben Irren MK Pressebild Judith Buss IMG 3508Das Licht kommt hier von unten! Johanna Eiworth, Erwin Aljukić, Bernardo Arias Porras, Thomas Hauser, Jochen Noch © Judith Buss

Auf der Spielfläche davor geht es sprachmächtig weiter und in Sachen Kaputtheit wie gehabt: Erdosain ist als Erfinder und Ehemann gescheitert. Und auch alle anderen Erniedrigten und Beleidigten, die Nutte (Johanna Eiworth in Vertretung für die erkrankte Anna Gesa-Raija Lappe), Erwin Aljukićs Hauptmann, Jochen Nochs Ergueta, Hausers von der Sinnlosigkeit des Lebens zernagter Zuhälter wie Christian Löbers suizidaler Apotheker, erweisen sich für die Pläne des Astrologen (Annette Paulmann) als leichte Beute.

Oder sind sie nur seine Halluzinationen, die er in den Sternen sieht? Irgendwie geht es um das Initiieren einer Seuche zur Schwächung des Militärs (L7L ist der Name eines Proteins des Kuhpockenvirus), und man gibt allmählich die Hoffnung auf, dass sich dieses nihilistische Dickicht noch lichten könnte, das hier alle Schauspieler mit Feuereifer durchpflügen. Das entspricht der manischen Erzählweise Arlts und ist doch ein wenig ermüdend, weil die Befindlichkeiten wolkig bleiben und die Figuren fern.

Ein Rest Metaphysik?

Hier wird keine Ursachenforschung betrieben, sondern ein Panorama ausgepinselt. Und als es zuletzt in Einzelszenen zerfällt, kommen immer mehr Bilder hinzu. Voraufgezeichnete Filme zeigen über die ganze Bühnenbreite hinweg das Geschehen nochmal. Nur leicht zeitversetzt, in schwarzweiß und mit kleinen Varianten. Mal wuchert ein Wald über die Rückwand – das verlorene Paradies? –, dann sieht man Menschen mit Tierköpfen auf einem Filmstreifen vor und zurückgehen, Phantasie-Ritter mit Leuchtschwertern aus den Bildern herauskommen oder Eiworth in Zeitlupe eine Treppe hinaufgehen. In diesem Delir klingen selbst die ersten Takte von Klaus Nomis "Cold Song" verzerrt.

Ragt da bildlich und akustisch etwas hinein von der verlorenen metaphysischen Perspektive, die den im Hier und Jetzt Verlorenen wieder Sinn spenden könnte, ohne dass es dafür gleich ein Blutbad oder einen Gott in Mammon- oder Menschen-Gestalt braucht? Oder geht diese Überlegung dem Astrologen auf den Leim, der "das Fehlen einer Religion", als "das Übel des Jahrhunderts" beklagt? Fragen über Fragen an einem ratlos machenden Abend.

L7L – Die Sieben Irren
Ein Projekt von Alejandro Tantanian und Oria Puppo
nach dem Roman von Roberto Arlt
Regie: Alejandro Tantanian, Bühne, Kostüm, Video & Mitarbeit Regie: Oria Puppo, Choreographie: Luciano Rosso, Licht: Maximilian Kraußmüller, Dramaturgie: Martin Valdés-Stauber, Übersetzung, Stückfassung: Franziska Muche.
Mit: Erwin Aljukić, Bernardo Arias Porras, Thomas Hauser, Johanna Eiworth (eingesprungen für Anna Gesa-Raija Lappe), Christian Löber, Jochen Noch, Annette Paulmann.
Premiere am 8. Dezember 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Wer den Roman nicht gelesen hat, ist bei den szenischen Umsetzungen der Verschwörer-Truppe leider etwas verloren. Auch eignet sich Arlts dichte, poetische Sprache nicht unbedingt als Text für die Bühne. Aber vielleicht gehört ja die Überforderung der Zuhörerschaft, das dabei entstehende Gefühl der Verlorenheit zum Konzept", schreibt Michael Stadler von der Abendzeitung (9.12.2022). Bei aller Sperrigkeit werde mit Witz gespielt, zudem sei der Abend "multimedial-abwechslungsreich" inszeniert.

"Tantanian liefert eben keine Abziehbilder von Verschwörungserzählern oder Erklärungsmodelle, warum es derer so viele gibt. Das ist ein Glück - und trotzdem nicht der Weg zum Verständnis", schreibt Yvonne Poppek von der Süddeutschen Zeitung (11.12.2022). "Der Regisseur bohrt da lieber im Fleisch der Kunst und stellt die Frage, in welchen Fiktionen sich letztlich alle bewegen. Dafür, dass jeder in seiner Bubble lebt, hat er am Ende sogar ein plakatives Bild gefunden: Bernardo Arias Porras steht tastend in einer aufgeblasenen Plastikhülle. Durchdringen lässt sie sich nicht."

"Rein künstlerisch ist der Abend als fantasievolle, schräge Weiterentwicklung von Traditionen anzusehen, die teilweise auf Jossi Wielers frühere Jelinek-Inszenierungen zurückgehen. Aber dass Verschwörungen hier als ästhetisches Phänomen präsentiert werden, wirkt erfrischend ungewohnt bei einem Thema, das sonst längst auf das erkenntnisferne Niveau seichter Talkshow-Phrasen abgesackt ist", schreibt Alexander Altmann vom Münchner Merkur (10.12.2022). "Reale wie eingebildete Verschwörungen, das spürt man hier am eigenen Leib, sind eben nur Symptom einer viel tiefer liegenden Welterschütterung, die ihre höchst diesseitig-materiellen Ursachen hat in ökonomischen Prozessen und Machtverhältnissen."

Kommentare  
L7L, München: Interessante Fragen
Sabine Leucht stellt gute Fragen zu diesem - wie sie schreibt - sprachmächtigen Abend. Ich habe das Stück auch gesehen, werde es mir aber gerade wegen der Sprachmächtigkeit noch einmal ansehen. Es stellt sich ja durch aus an diesen nicht schlechten Abend die Frage, wie passt Bild und Text irgendwie zusammen? Mein erster Bericht in meinem Blog liest sich hier: https://qooz.de/2022/12/14/theater-l7l-die-sieben-irren/
L7L, Müchen: Kalendersprüche
Es mag alles sein, dass das Stück auf einen Roman basiert. In der Praxis werden aber nur zwei Stunden nur scheinbar sinnvolle Kalendersprüche hintereinander vorgetragen. Die Schauspieler machen das mit großer Präzision und Leidenschaft. Aber am Ende blieb für mich nichts sinnvolles zurück. Das Abschlussbild mit der Blase fand ich sehr schön.
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