Iwanow - Robert Borgmann inszeniert Tschechow am Schauspiel Köln mit dem Spirit von Nick Cave
Stillgestanden im Gewimmel der Welt
von Andreas Wilink
Köln, 9. Dezember 2016. Die "Komödie" schmiert ab. Die Genre-Bezeichnung ist in verwischten Großbuchstaben – schwarz auf weiß – an die Wand gepinselt. Sie gehört zum beweglichen Modul eines Zimmers oder, richtiger, Kondensat eines Zimmers mit Heizkörper und Ventilator. Dann liegt da noch im Laufe des langen Abends auf der kahlen schwarzen Bühne im Depot 1 das Wurzelwerk eines Baums, steht da ein morsches, aus dem Lot gekipptes hässliches gelb-braunes Ledersofa, wirft eine Lichtlamellen-Konstruktion ihre schraffierten Schatten, macht eine PlayStation für zwei Musiker mobil, spendet ein Haufen Mutterboden den Segen der Erde.
In seiner Tschechow-Inszenierung lässt Robert Borgmann Nick Caves "Girl in Amber" von Iwanows kranker Frau Anna singen. Eine Zeile des Songs heißt "Don’t touch me", eine weitere: "If you want to bleed, just bleed." Das ist die ganze Philosophie. Iwanow, wie in Bernstein verschlossen, ist ein Unberührbarer. Seine nonchalante, vielleicht gleichmütige, vielleicht verächtliche, vielleicht weise, vielleicht herzlose Haltung zum Leben ist die, dass wer bluten will, dies tun möge.
Getrappel, Stimmen, Schritte, Motorengeräusch – mit einem furios gemixten Sound aus dem Off beginnt und endet die Aufführung, die das Gewimmel der Welt zum Stillstand bringt und ein anderes Tempo propagiert. Nämlich das von Iwanow, der sitzt, liest und sich überhaupt wenig bewegt: Marek Harloff – anti-virtuos mit roter Mütze, hängenden Schultern im schweren Mantel und schleppender Stimme – erhält einen gesichtslosen Doppelgänger mit Strumpfmaske, der zwar für einige Stunden verschwindet, aber im Augenblick des Todes (Iwanow erhängt sich bereits nach dem Dritten Akt) wieder die Alter-Ego-Rolle einnimmt.
Das installative Regie-Arrangement lässt allerlei zu und sortiert die Leerläufer und Unlüstlinge, Schacherer und verlotterten Seelen, die sich billig geben oder Fasson wahren, großspurig sind oder kleinlaut, je nach Lethargie und Exaltiertheit. Da ist zum Beispiel der auf einem winzigen Dreirad umherkurvende Graf Schabelskij (Wolfgang Pregler) oder der Verwalter Borkin (Max Mayer), der gemeines Wienerisch kreischt, als habe jemand Tschechow mit Horváth verwechselt. Mit quietschendem Free Jazz und einer grellen Slow-Motion-Pantomime verschiebt sich der Schauplatz zu den Lebedews, wo ordinäre Society-Schnallen und raunzende Schnodder-Männer eine Volksbühnen-Filiale eröffnen.
Mit Ideen geizt Robert Borgmann nicht, aber sie haben etwas penetrant Besserwisserisches und Aufdringliches und lösen sich auf in ihre Form-Bestandteile. Zumal die der Doppelbesetzung der beiden weiblichen Hauptfiguren durch Sophia Burtscher. Iwanow, "der überflüssige Mensch", trachtet danach, sich zum Verschwinden zu bringen, nachdem er seine Anna Petrovna unglücklich gemacht und betrogen, der Schwindsüchtigen in einem bösen Moment ihren baldigen Tod angekündigt hat, sich entliebt hat und doch mit der jungen Sascha Lebedev eine letzte Liebe erprobt. Indem die wie im Leichentuch schreitende Kranke, die uns depressiven Alternativ-Rock vorsingt und sich als weiße Todesbraut in Tüll wickelt, und das naive bezopfte Püppchen Sascha in Minirock einerlei sind, bietet sich ein wahnhaftes Flucht- und Illusionsbild: Iwanow, der die eine in der Umarmung der anderen vergisst und sie dann doch wieder vorfindet.
Gemüse ist ihre Kunst
Als Borgmann vor drei Jahren in Stuttgart Tschechows "Onkel Wanja" inszenierte, war die Bewegung der Aufführung die des Schlags ins Leere, mit dem die junge Frau Jelena Tennisbälle ins Imaginäre platzierte. Der Abend funktionierte als Perpetuum mobile – ohne vom Fleck zu kommen: Gurken essen, Tee trinken, Zigaretten rauchen, herumsitzen, ruhelos umherwandern. Ein bis zwei dieser Angewohnheiten haben die mit Pelzmützen als russischem Zitat-Requisit ausstaffierten Kölner Tschechow-Menschen beibehalten; auch sie mampfen eingelegte Gurken. Gemüse ist ihre Kunst.
So weitläufig still es bei Iwanow ist, so hoch her geht es auf dem Nachbargut. Wie schon in Stuttgart verhallt in der provisorischen Gegenwarts-Atmosphäre die Frage "Was tun?" und echot outriert nach. Dieser "Iwanow" laugt aus, wenn er knallbunt Party macht, im dritten Akt den Stillstand schindet und flaue Witzchen reißen lässt, so dass eine Szene der Innigkeit zwischen Sascha und Iwanow, der die Liebe wie einen letzten Atemzug aushaucht, keine Chance mehr hat.
Das Konzept: verselbständigt bis zur Langeweile. Ganz besonders, da Borgmann den vierten Akt bei hellem Saallicht wie einen eigenartigen Appendix behandelt, als würde der Schwanz mit dem Hund wedeln, und mit diversen V-Effekten ein satirisch historisierend-romantisches, reflexions-fanatisches Requiem anstimmt. Iwanow hat sich da schon den Strick genommen und über die Lehnen im Parkett davon gemacht.
Da kommt und strippt und steppt nun der Landarzt Lwow (Gerrit Jansen) und stiehlt uns (und der Souffleuse) die Zeit mit der Sinnfrage, der Künstlerkrise, der Kulturkritik, dem Menschheits-Big-Bang. Die Entschleunigungs-Prüfung, die einem der Theater-Pädagoge Borkmann auferlegt, können – und wollen – wir nur mangelhaft bestehen. Nicht jeder, der Geschäftigkeit beklagt, den Label-Hype verhöhnt und die Lüge zu entlarven vorgibt, spricht deshalb schon die Wahrheit.
Iwanow
von Anton Tschechow
Deutsch von Andrea Clemen
Regie: Robert Borgmann; Bühne: Rocco Peuker; Kostüme: Bettina Werner; Licht:, Michael Frank; Dramaturgie: Nina Rühmeier.
Mit: Sophia Burtscher, Marek Harloff, Gerrit Jansen, Guido Lambrecht, Max Mayer, Seán McDonagh, Wolfgang Pregler, Katharina Schmalenberg, Sabine Waibel, Lou Zöllikau sowie Niklas Kraft und Sven Michelson (Musiker).
Dauer: 4 Stunden, eine Pause
www.schauspiel.koeln
Kritikenrundschau
Mit gespenstischen Doppelungen finde Regisseur Robert Borgmann anfangs einen düster-treffenden Ton. Und wenn Anna sich das Mikro nimmt und Nick Caves moribundes "Girl in Amber" beschwört, glaubt man sogar an einen großen Abend, holt Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (12.12.2016) aus. "Doch bald wird mehr geblödelt als innerlich geblutet." Rabiat wirke Borgmann der Gefahr entgegen, "Überdruss und Langeweile der Tschechow-Figuren ungefiltert ins Parkett zu schicken". Die Inszenierung dehne sich ins Läppische und suche den mehr oder minder aparten Knalleffekt. Fazit: "Mag es vor Iwanows Selbstmord noch starke Abschiedsszenen mit Anna und Sascha geben - die Mätzchen haben das Stück längst entkernt. So verschwindet nicht nur der Titelheld, sondern auch Tschechow aus diesem Abend, der leider nicht groß, sondern bloß überlang wird."
Marek Harloff spiele den Iwanow weniger als dass er das "schwarze Loch" der Inszenierung bilde, schreibt Christian Bos im Kölner-Stadt-Anzeiger (12.12.2016), "den lichtschluckenden Punkt, auf den hier alle zutrudeln". Das "Verglühen der 'überflüssigen' Menschen" sei oft "spektakulär". Borgmann gebe jedem Einzelnen "die Gelegenheit zu lustvoll-gemeinen Solo". "Relevantes, provozierendes, wunderbar gespieltes Theater". Ein "echter Hammer", ein "herausragender Abend", der es verdient hätte, zum Theatertreffen eingeladen zu werden.
"Warum steht man eigentlich hier?", frage Gerrit Jansen als Arzt Lwow gegen Ende. Für Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.12.2016) ist das "eine berechtigte Frage, die sich auch das Publikum stellt". Er hat "Verlegenheiten und Beliebigkeiten im Umgang mit einem Stück" erlebt, "das, gedehnt auf knapp vier Stunden, in Köln lange weilt und in Stücke fällt".
"Das Stichwort 'Komödie' funktioniert wie ein Ordnungsruf, den die Schauspieler, in sanft karikierenden Kostümen von Bettina Werner, gewissermaßen übererfüllen. Die Komödie nimmt Fahrt auf, und doch bleibt das Gefühl: Es ist gar keine", beobachtet Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (16.12.2016). Es gebe "durchaus einiges zu lachen", doch der Humor sei alles andere als geschmeidig. "Warmherzige Züge fehlen."
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