Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie - Staatsschauspiel Dresden
Die Sakralisierung des Eigentums
3. Oktober 2021. In "Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie" hängt Volker Lösch an Molière noch eine Ökonomie-Lecture mit Thomas Piketty hintendran. Und verhandelt wichtige Fragen der neoliberalen Wirtschaftsepoche.
Von Michael Bartsch
3. Oktober 2021. Das ist ein ganz anderer Lösch, als man ihn spätestens seit Hauptmanns "Weber" 2005 in Dresden kennt. Nicht der Volker Lösch der Bürgerchöre, die die neun Jahre später einsetzenden Pegida-Proteste vorwegnahmen, nicht der Agitator des "Blauen Wunders" von 2019, das AfD-Gedankengut einfach zu Ende spielte. Bis 20 Minuten vor dem Black gibt es nun hingegen im Dresdner Schauspielhaus eine komödiantisch-parodistische Molière-Adaption des "Tartuffe" zu sehen, die an Brechts große Kapitalismus-Parabeln wie den "Guten Menschen", die "Johanna" oder "Mahagonny" erinnert. Im Text wird dieser Vergleich auch einmal gezogen. Schließlich aber folgt doch noch die fast schon sehnlich erwartete Epilog-Vorlesung. Die Akteure referieren die Analyse "Kapital und Ideologie" des französischen Ökonomen Thomas Piketty, wenn man so will, ein Marx des 21. Jahrhunderts.
Metamorphosen einer Hausgemeinschaft
Mit dieser Zielmarke im Auge versetzt der – seiner fiktiven Biographie nach – in Chemnitz geborene Autor Soeren Voima (hinter dem Pseudonym verbirgt sich der Dramaturg Christian Tschirner) die Komödie aus der Zeit Ludwigs XIV. in die jüngste Vergangenheit. Voima folgte einem Auftrag des Staatsschauspiels Dresden und arbeitete eng mit dem Regieteam um Volker Lösch zusammen, wobei Chefdramaturg Jörg Bochow wahrscheinlich eine Schlüsselrolle zukam. Nicht nur das Personarium des Originals ist komplett erhalten geblieben. Auch die Verführungskraft von Demagogen und falschen Propheten und ihrer Ideologien bestimmt die 350 Jahre später erfolgte Molière-Neufassung. Orgons Haus, in das er den zunächst vergötterten Schwindler Tartuffe aufnimmt, wird hier zum Symbol der Raffgier, zum exemplarischen Spekulationsobjekt.
Dramaturgisch dankbar zeichnet das Stück einen Längsschnitt über 40 Jahre. Am Anfang steht sozusagen die Unschuldsvermutung, der anarchisch-urkommunistische Zustand. Man darf ein bisschen die Stirn runzeln, ob es 1980 zur erklärten Startzeit des Stückes noch eine solche Hippie-Kommune gegeben hat. Sie aber zwischen Genuss und Ironie zu zelebrieren, bleibt eine dankbare Aufgabe für jede Regie. Volker Löschs langjährige Partnerin Cary Gayler hat dafür eine Villa mit mehreren Zimmern und einer Dachterrasse auf die Drehbühne gebaut, die von Szene zu Szene immer piefiger und geleckter aussieht. Anfangs dominieren noch Plakate gegen Nazis, ein Bild von John Lennon und Yoko Ono beim Bed-In und Bierkästen. Dazu eine Orgie auf der Terrasse mit dem jegliche Kleidung verabscheuenden Tantristen Damis, "Aquarius"-Klängen und Sprüchen vom Recht auf Faulheit und "Spermagnostik" statt Kapital.
Die Versuchungen des Reichtums
Das Scheinidyll aber wird bedroht. Von innen, weil niemand aufräumt und den Müll beseitigt. Von außen in Gestalt von Orgons Mama Madame Pernelle, die ihren Sohn unter Druck setzt, endlich die überfällige Miete einzutreiben. Eine imponierende Gestalt, vorn und hinten gewaltig ausladend, von Thomas Eisen zu seinem und des Publikums Vergnügen ausgekostet. Die Gesetze des Kapitals also fordern ihr Recht, und das ist die Stunde von Orgons Studienfreund Tartuffe. Welche Ideologie er vom Studium in den Staaten mitgebracht hat, ist an Stetson, Fransenweste und Boots unschwer zu erkennen. "Euer Antikapitalismus ist nur eine Marotte", steigt er ein, und "der Mensch ist ein Wolf." Dieser Tartuffe in Person von Philipp Grimm ist einerseits eine zynisch-magische Figur, ein charmanter Verführer wie mancher Mephisto. Er wird im Verlauf der drei Spielstunden immer dicker, während Madame Pernelle abnimmt.
Jannik Hinsch als Orgon erscheint nicht naiv oder schwächlich, aber als ein leicht beeinflussbarer Suchender. Er passt in die mit Tartuffe anbrechende neue Zeit, da das Kapital einer Immobilie endlich Rendite abwerfen soll und die WG-Bewohner zu wahrer narzisstischer Selbstentfaltung, also zu Investitionen gedrängt werden. Das geschieht vor der videogestützten historisch-politischen Kulisse der Ära Kohl und des Herbstes 1989 in der DDR. Schwager Cléante taucht als beigetretener "Zonen-Klaus" auf und vollzieht die gleiche Anpassung an die "Faszination des Erfolgs", an das Versprechen unbegrenzter Freiheit. Alle erliegen dem Immobilienhype, kaufen ihre Zimmer.
Grundfragen der Gesellschaftsorganisation
Man ahnt, wohin es führt. Die mit der Bankpleite der Lehman Brothers beginnende Weltfinanzkrise 2008 ruiniert alle. Tartuffe erschüttert das nicht. "Es können auf diesem Planeten eben nur die Stärksten überleben", predigt er weiter vom Dach. Seine Thesen der "Ausscheidung des Überflüssigen" schlagen eine beängstigende Brücke zu faschistischen und rassistischen Ideologien. Analog zum Original lässt ihn ein Kind (!) schließlich in den Fahrstuhlschacht stürzen.
Diese Zusammenhänge kommen so plastisch-pointiert, genussreich-theatralisch, bewegungsreich und in hohem Tempo über die Bühne, dass es keiner agitatorischen Simplifizierung bedarf. Auch Molière schrieb in Versen, bei Autor Voima wirken sie manchmal originell, manchmal allzu sehr auf den Endreim geknittelt. Das Menetekel hätte man auch ohne die lange Piketty-Schlussvorlesung zu Vermögensverteilungen, Elefantenkurven und zur Unmöglichkeit des Reichwerdens durch eigene Arbeit verstanden. Grimmig grinst man beim Gedanken an die aktuellen Aufbruchs- und Veränderungstöne der potenziellen Koalitionspartner im Bundestag in sich hinein. Von diesen Grundfragen zukünftiger Gesellschaftsorganisation ist bei ihnen überhaupt nicht die Rede.
Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie
von Soeren Voima nach Molière und "Kapital und Ideologie" von Thomas Piketty
Regie: Volker Lösch, Dramaturgie: Jörg Bochow, Bühne: Cary Gayler, Kostüme: Carola Reuther.
Mit: Thomas Eisen, Philipp Grimm, Jannik Hinsch, Henriette Hölzel, Yassin Trabelsi, Marlene Reiter, Eva Lucia Grieser, Daniel Séjourné, Oliver Simon.
Premiere am 2. Oktober 2021 am Staatsschauspiel Dresden
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
staatsschauspiel-dresden.de
Kritikenrundschau
Eine moderne Art Agritprop-Theaters sah Michael Ernst (Dresdner Neueste Nachrichten, 5.10.2021). "Drei Deutschstunden, die vier Jahrzehnte abbilden, um auf die Globalisierung der Welt zu schauen. Was für ein Wahnsinn." Nach dem aufgesetzen Versuch der Schockierung folge der des Entlarvens. Fazit: "Eine bessere Welt ist nicht nur möglich, sondern notwendig. Dieser Theaterabend hat es einmal mehr unter Beweis gestellt."
Mit der fundamentalen Kapitalismus-Kritik dieses Stücks zeige sich zwar einmal mehr der aufklärerische Gestus von Volker Lösch, "der aber frühere Stilmittel nicht nutzt", schreibt 'hn' in der Dresdner Morgenpost (5.10.2021). Die Tartuffe-Geschichte sei mit Verve und Tempo erzählt. Thomas Pikettys viel zu langes Volkswirtschaftsseminar sei unnötig und viel zu lang.
Voimas "Mischung aus Trash und zeitgenössischer Kapitalismuskritik" sei "eine Steilvorlage für Regisseur Volker Lösch, der es ja politisch und auch sonst gerne krachen lässt auf dem Theater", so Wolfgang Schilling im MDR Kultur (4.10.2021). Gemeinsam mit dem "spielfreudigen Darstellerteam" werde folglich "ordentlich auf die Tube gedrückt". Das sei als "Doppelstunde Gesellschaftskunde" sehr "amüsant", die Hinzunahme des Piketty-Buchs gerate dann aber "dröge, zeigefingernd und vulgär-materialistisch".
Soeren Voima habe "im besten Sinne des Wortes eine Stücküberschreibung" vorgelegt, sagt Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (3.10.2021). Der Autor nutze "dramatische Triebfedern der Vorlage, seine Logik und seine komischen Wendungen, insbesondere im Verhältnis von Orgon zu seinem ideologischen Einflüsterer Tartuffe". Das sei als "ulkige Parabel" zwar sehr "grell und laut und bunt", aber: "Für die Figurenzeichnung bleibt da fast nur Karikaturales", so der Kritiker, den Abend letztlich zu "plakativ" findet.
Volker Lösch verstehe sich "als Aufklärer, als Streiter für politisches Theater", schreibt Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (4.10.2021) – und auch dieser Abend werde Löschs Ruf gerecht. Der Regisseur sei ein "radikaler und mutiger Theatermacher mit überzeugender Kapitalismuskritik". Das "gut besetzte" Ensemble, aus dem Thomas Eisen als "sexhungrige und biestige Madame Pernelle" herausrage, sei an diesem Abend physisch voll gefordert. Der Piketty-Epilog sei dennoch "zu lang geraten", findet der Rezensent.
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Diesmal stand die Vorlesung resp. Anklage singulär am Ende, was es letztlich nicht besser macht. Eher schlechter, denn am Anfang hätte man das vielleicht noch mit Neugier aufgenommen, auch wenn man auch da schon unter der Länglichkeit gelitten hätte. Unbestreitbar, die Texte von Piketty sind wichtig, lesens- und auch hörenswert, aber in dieser Form ist das „to much“, wie Ihr da am Theater wohl sagt. Es wird auch der Bearbeitung des Tartuffe durch Soeren Voima und der schauspielerischen Leistung aller Akteur*innen nicht gerecht, sondern mindert deren Wert und Wirkung.
Davon abgesehen – ich sah eine überzeugende Übertragung des Stoffes nach heute, trotz des etwas überdehnten Zeitstrahls, oder gerade deswegen. Die Molièreschen Charaktere waren treffend mit Zeitgenoss*innen besetzt, ich hätte dem alten Schinken gar nicht zugetraut, daß er so eine Relevanz entfalten kann. Fast überflüssig zu erwähnen ist, daß das Dresdener Ensemble auf höchsten Niveau agierte – eine Fähigkeit, die in den letzten Jahren hier leider nicht immer abgerufen wird.
Ich dachte ubd hoffte die Zeiten in denen man Theater mit derart füllen musste wären vorbei. Leider ist dies wohl doch nicht der Fall gewesen.
Da wird Moliere vergewaltigt um eigene Komplexe auf die Bühne zu bringen... na ja, irgenwie braucht man ja einen Namen um die Leute ins Theater zu bekommen.
Sexistisch und pornografisch, ... die Kapitalismuskritik welche im Machwerk vorkommen, verdient den Namen nicht und ausschließlich Dialoge die in der Lautstärke Hörgeräteträgern, welche dieselben vergessen haben gerecht werden...
Für mich ein sinnbefreites Stück. Eine Inzenierung aus den Zeiten als man meinte viel nackte Haut und angedeutete Sexpraktiken gepaart mit einem ewigen "Fivk Dich" ist schon bissl wenig Anspruch seitens des Regisseurs an sich selbst.
Mir haben die Schauspieler und Schauspielerinne leid getan, die wenigstens versucht haben der Inhaltslosigkeit dieses Stückes schauspielerischen Inhalt zu geben.
Aber, es wird eben nicht besser, wenn dem Macher des Stückes nichts anderes einfällt als einen nackten Mann auf der Bühne tanzen zu lassen.
In der ersten Hälfte bieten uns Volker Lösch und sein Ensemble ein unterhaltsames Polit- und Zeitgeschichtskabarett: von Molières Original sind nur noch einige Motive und die Namen der Figuren erhalten. Soeren Voima versetzt das Komödien-Personal in die Vorwende-Zeit und lässt in einer pointenreichen Vers-Dichtung die vergangenen Jahrzehnte Revue passieren.
Von der 68er-bewegten Kommune um den Tantra-Guru Damis (Yassin Trabelsi), die sich unter dem Dach von Madame Pernelle (Thomas Eisen in einer etwas zu „Charleys Tante“-haften Drag-Rolle) und Orgon (Jannik Hinsch) breitmachte, geht es über die Biedermeier-Bräsigkeit, in der sich die alte Bundesrepublik während Helmut Kohls Kanzlerschaft eingerichtet hat, bis zu den Life-Style-Phrasen neoliberaler Selbstoptimierung, die mit dem Rot-Grünen Projekt von Schröder/Fischer und dem Start-up- und Dot.com-Hype zur Jahrtausendwende einhergingen. Zwangsläufig führt die ganze überhitzte Blase, die von Tartuffe (Philipp Grimm) angetrieben wird, im Lehman-Crash, so dass die Wohn- und Eigentümergemeinschaft vor einem Scherbenhaufen steht.
Überraschend ist, wie bruchlos der Übergang von Comedy zu Lecture im Schluss-Drittel funktioniert. Dass dies gelingt, ist durchaus bemerkenswert an dieser Inszenierung, die zu den sehenswerteren Arbeiten der aktuellen Saison zählt.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/05/22/der-tartuffe-oder-kapital-und-ideologie-staatsschauspiel-dresden-kritik/
Das ist einfach nur ein Missverständnis, eine Bankrotterklärung der Theatermacher gegenüber dem eigenen Metier. Man misstraut den dramaturgischen Mitteln und der Intelligenz des Publikums. Dabei ist Piketty inhaltlich höchst streitbar und eine gründliche Auseinandersetzung wert. Im Theater allerdings suche ich eine künstlerische Übersetzung. Und was davon in Teil 1 zu sehen war, wurde zum Schluss wieder kaputtgemacht. In dieser banalen Form einfach nur ärgerlich.