Onkel Hos vergessene europäische Kinder

von Caren Pfeil

Dresden, 9. Oktober 2009. Ich sitze an der Theke im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden und rede mit meinem Freund über die Weltlage. Die Tanzfläche ist leer. Dahinter, im Dunkel des Foyers, haben die vietnamesischen Hauptdarsteller des Theaterabends die Musikanlage okkupiert. Ich höre fremde fernöstliche Klänge, dazu singt Nguyen Van Loi gefühlvoll in ein Mikrophon, Phung Hang Thanh greift sich ein zweites und mischt ihre Stimme mit seiner. Beide leben seit über 20 Jahren in Deutschland, zumindest mit der Musikauswahl schlagen sie Brücken in ihre Heimat. Einige ihrer vietnamesischen Bekannten stehen dicht vor ihnen und applaudieren.

Experten der eigenen Biographie
Dieses Bild in seiner Mischung aus Tristesse und Wahrhaftigkeit mag am Anfang der Beschreibung eines Theaterabends stehen. Dass "Grenzgebiet" die Vereinbarung dessen, was man gemeinhin unter Theater versteht, unterläuft, überrascht dabei wenig, steht doch das Label "Rimini Protokoll" für ein Theater, das, aus Versatzstücken von Wirklichkeit gebaut, auf Rollen, eine fiktive Fabel oder ausgestellte Ideologie - kurz: auf sämtliche Materialien einer herkömmlichen Theatralität verzichtet.

Die Biografien von Menschen werden lediglich dadurch vergrößert, werden dadurch zu "Theater", dass sie auf eine Bühne transportiert werden. Das Transportmittel ist so einfach wie überzeugend, denn die Träger der Biografien erzählen selbst; von sich, von ihrer Vergangenheit, ihren Hoffnungen, ihren Wünschen. Durchweg tragen die Nichtschauspieler Mikroports, damit sie ihre Stimmen nicht künstlich anheben müssen, um ihnen Bühnenpräsenz zu verleihen. Zudem verstärkt dieses technische Mittel die dokumentarische Wirkung der Performance.

Von Händlern und Gastarbeitern
Auf der Suche nach Lebensgeschichten, die im Kleinen das Spannungsfeld größerer politischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge vermitteln können, sind Helgard Haug und Daniel Wetzel gemeinsam mit ihren Recherche-Mitarbeitern Sebastian Brünger und Karolína Svobodová fündig geworden im deutsch–tschechischen Grenzgebiet, wo sich vietnamesische Familien nach der Wende angesiedelt haben, um mit dem Handel zu treiben, was hinter der Grenze durch Steuern oder Lizenzgebühren überteuert, hier aber billig und dadurch gewinnbringend zu verkaufen ist, beispielsweise Zigaretten und nachgemachte US- Armyklamotten.

In Dresden wiederum haben sie Vietnamesen getroffen, die noch in den achtziger Jahren von der DDR als billige, dafür umso fleißigere GastabeiterInnen eingekauft worden sind, und die der Staat nach der Wende – trotz einer Ausreiseprämie von 3000 Mark - nicht mehr losgeworden ist.

Bei den vietnamesischen Familien aus Tschechien kommen die Kinder zu Wort, kaum älter als der Mauerfall, die Vietnamesen aus Deutschland sind mindestens eine Generation älter. Den so skurrilen wie tragischen Gegenpart bildet ein etwa 80 - jähriger ehemaliger Grenzoffizier der DDR, der in den Achtzigern zum Hauptbetreuer vietnamesischer Gastarbeiter abkommandiert wurde und diese Aufgabe, das belegen die akribisch geführten Maßnahmeprotokolle, mit ebensolcher Befehlstreue erledigt hat wie zuvor seine Tätigkeit an der Grenze oder bei der Ausbildung von Offizieren.

Zwischen Tragik und Komik wackelt das Weltbild
Manchmal wurde mir übel ob der Kommandosprache dieses Befehlsempfängers, manchmal konnte ich erleichtert lachen über dieses Faktotum überlebter diktatorischer Strukturen. Doch Geschichten zwischen Tragik und absurder Komik waren es allesamt, die die Helden des Grenzgebiets zu erzählen hatten. Da gab es Kinder, die einmal nur Onkel Ho (Ho Chi Minh) am Bart zupfen und von ihm Bonbons bekommen wollten, oder Erwachsene, die Helmut Kohl den "Vater des goldenen Regens" tauften, der über sie gekommen war, seit sie an den Segnungen des freien Handels teilhatten.

Vor allem aber erlebte man entwurzelte Menschen, die als Erinnerung an ihre Herkunft Pappversionen von den goldgerahmten Landschaftsbildern ihrer Kindheit mit auf die Bühne gebracht hatten oder, auch sie als Pappkameradin, die leibliche Mutter eines Mädchens, das in einer tschechischen Pflegefamilie aufgewachsen war. Dazu klangen die mit sanften Tenorstimmen vorgetragenen vietnamesischen Kriegslieder so poetisch wie finnische Heimatchöre. Und als diese Männer auf den zweikubikmetergroßen Holzkisten sitzend, die sie damals, gefüllt mit Mopeds, Fahrrädern und Zucker nach Hause schickten, weil das verdiente Ostgeld dort ja doch nichts wert war, "Über sieben Brücken musst du gehn" in vietnamesisch eingefärbtem Deutsch intonierten, wackelte das Weltbild schon mächtig.

Immerhin hatte man bisher von diesen Nachbarn nicht viel mehr gewusst, als dass, wo sie auftauchen, häufig eine Stange Zigaretten blitzschnell den Besitzer wechselt. Und dass die Tomaten bei ihnen billiger sind als im Konsum. Auf einmal stehen Biografien hinter ihnen, und das Theater wird für zwei Stunden ein Ort, der Wirklichkeit zu einem außerordentlichen ästhetischen Erlebnis vergrößert.

 

Vùng biên gió'i – Grenzgebiet
Ein Theaterprojekt mit Experten aus Dresden und Prag von Helgard Haug und Daniel Wetzel (Rimini Protokoll)
Regie: Helgard Haug und Daniel Wetzel, Bühne: Simeon Meier.
Mit: Pham Thanh Van, Pham Anh Thu, Do Thu Trang, Cao The Hung, Phung Hang Thanh, Nguyen Van Loi, Nguyen Hung Son, Karl-Heinz Kathert.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Mehr zu Rimini Protokoll: Heuschrecken in Zürich im September 2009; Der Zauberlehrling im Mai 2009 in Düsseldorf; Hauptversammlung im Mai 2009 in Berlin und noch viel mehr wenn Sie in die "Suche-Maske, rechts oben auf der Übersichtsseite den Begriff "Rimini Protokoll" eingeben und auf enter drücken.

 

Kritikenrundschau

Für die Projekte von Rimini Protokoll sei immer viel Recherche nötig, "aber auch ein gutes Casting, denn die Experten des Alltags müssen bühnentauglich sein", erläutert Hartmut Krug auf Deutschlandfunk (10.10.): "Nur Laien auf die Bühne zu stellen und aus ihrem Leben erzählen zu lassen, reicht nicht. Die Darsteller müssen dort nicht nur authentisch erscheinen, sondern zugleich auch theatralisch wirksam sein. Und: Die privaten Erfahrungen müssen in einer zweiten Bedeutungsebene gesellschaftlich verallgemeinerbare Auskünfte vermitteln." Das Dresdner Stück "Vùng biên gió'i" aber , das sich mit dem Leben vietnamesischer Gastarbeiter in der DDR beschäftigt, informiere vor allem: "Was hier zu sehen und zu hören ist, wirkt eher weich gespült und überzeugt und unterhält dabei weniger. (...) Die abgeschotteten Lebensbedingungen in der DDR, die vielen Abtreibungen, die Gefahr, bei Unbotmäßigkeit wieder nach Vietnam zurückgeschickt zu werden, alles kommt zwar vor, aber es liegt unter einer Art Betulichkeits-Schleier." Der Abend erzähle uns wenig mehr, "als wir schon aus Büchern und Zeitungen wissen, und auch ein theatraler Mehrwert ist kaum zu verzeichnen."

Bei "Vùng biên gió'i" von Rimini Protokoll gehe es nicht um einen Teil der Biografien der beteiligten Vietnamesen, den man auch als solchen ausstellen könne, "sondern es geht gleich ums Ganze", schreibt Christiane Kühl in der tageszeitung (12.10.). "Das ist ein großer emotionaler Aufwand, besonders, weil dieses Ganze in einer Aufführung notwendigerweise auf Ausschnitte reduziert wird. Formal gelingt das nicht immer – ein Quiz mit Fragen wie 'Wer hat die meisten Bomben gesehen?' beispielsweise kommt etwas hilflos daher. Retten sich die Protagonisten dagegen ins Singen vietnamesischer Volkslieder, entstehen unvermittelt Ahnungen von einem ganz anderen Leben." Und dieses andere als Teil unserer Geschichte vorzustellen, das sei die Stärke des Projekts.

"Hochgelobt und dennoch völlig unprätentiös weben sich die beiden Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel ihren Stoff aus Lebensepisoden und stellen diese in neuen Zusammenhängen auf die Bühne", schreibt Andreas Herrmann in den Dresdner Neuesten Nachrichten (12.10.). So unterschiedlich die Charaktere und Geschichten in "Vùng biên gió'i" seien, "so differenziert die hochkonzentrierte Darbietung der zumeist in Monologen gehaltenen Texte: unsicher zurückhaltend bis frech auslebend." Sicher gebe es auch "Belanglosigkeiten und Längen, wie etwa die zehn trivialen Regeln des Geschäftemachens, aber so ist halt das Pure am Leben im Leben. Und Rimini kann jeden treffen. Hier geht es nicht um Exhibitionismus im Stile billiger Fernsehunterhaltung, sondern um kluge, sensible Aufarbeitung. Es ist ein Miteinander, kein Gegeneinander – die eingestreute Quizform wird nicht belohnt oder bestraft – Aufklärung statt Abhärtung."

Der Grenzoffizier Karl-Heinz Kathert werde von Rimini Protokoll "wie ein Felsen in der Brandung zwischen die Vietnamesen" gestellt, schreibt Valeria Heintges in der Sächsischen Zeitung (12.10.), sein "akkurates Auftreten und seine penible Sprache" lasse "ihre Quirligkeit und Spontaneität noch deutlicher werden". Genauso geschickt ordneten die Regisseure den Text, "lassen alle acht erzählen, stellen sie miteinander in Beziehung". Bewundernswert sei, wie Haug und Wetzel "die Menschen dazu bringen, sich zu öffnen, zu erzählen, und wie sie dennoch niemals vorführen oder ausnutzen. Ein kleiner Einblick in eine Welt direkt vor der Haustür – Son und Hung betreiben ihre Läden am Dresdner Albertplatz und sind dennoch unbekannt."

 

Kommentare  
Rimini Protokolls Vúng bien gió'i: mein erster Jeans-Anzug
Es ist eine Menge passiert an diesem Wochenende in Berliner Theatern. Neben dem Hauptevent Theatertreffen ist aber eine kleine aber interessante Produktion von Rimini Protokoll in einem Gastspiel aus Dresden völlig unbemerkt von der Berliner Kritik am HAU2 gelaufen. Vùng biên gió’i (Grenzgebiet) erzählt mit Experten aus Dresden und Prag die Geschichte der vietnamesischen Vertragsarbeiter in der DDR und ihrer Kinder, der zweiten Generation sozusagen, die nun in Deutschland und Tschechien ihre neuen Wege und Bestimmungen suchen. Als gelernter ehemaliger DDR-Bürger kennt man die kleinen, quirligen, immer gut gelaunten Leute, vorwiegend aus den Betrieben der Textilindustrie. Und auch ich hatte meinen ersten Jeans-Anzug nicht von der West-Verwandschaft sondern vom sogenannten „Fidschi“ für ca. 250 Ostmark. Für ihre Geschichte hat man sich nie wirklich interessiert, war der Kontakt doch meist nur auf solche geschäftlichen Beziehungen reduziert. Dank Rimini Protokoll hört man nun mehr, auch wenn man Vieles, falls man wollte, auch nach der Wende schon erfahren konnte. Die so genannte Solidarität der Brudervölker bestand in knallhart kalkuliertem materiellen Interesse, zu gleichen Teilen gingen je 40% der von den Vertragsarbeitern erzeugten Waren, übrigens auch aus Kuba, Angola oder Mosambique, in die SU oder nach Westdeutschland. Wir hören interessiert die Geschichten aus dem Vietnamkrieg von den Protagonisten, die damals meist selbst noch Kinder waren.
Ergänzt werden die Berichte von einem ehemaligen Grenzoffizier, der nach seinem aktiven Dienst, Betreuer für die vietnamesischen Vertragsarbeiter wurde. Sein Duktus des gewohnten Befehlsempfängers und -verteilers klingt ungewohnt und sicher für einige, nicht im Osten groß Gewordene, antiquiert. Aber auch ich erinnere mich solcher Betreuer in den Lehrlingswohnheimen der DDR. Es gehört sicher Mut dazu, sich der Aufgabe des Zeitzeugen aus dieser Sicht zu stellen.
Die Stellung der vietnamesischen Vertragsarbeiter in DDR war sicher eine komplett andere, als die der südvietnamesischen Boat People in der BRD. Diese waren eher willkommen und hatten die Chance sich zu integrieren, was den Vietnamesen in der DDR verwehrt blieb. Ein Unterschied, der durchaus auch in der noch immer nicht völlig überwundenen ideologischen Teilung des Landes nach dem Ende der französischen Fremdherrschaft begründet ist. Aber auf diese Parallele zur gesamtdeutschen Geschichte kann dieses sicher gut gemeinte Projekt nicht auch noch eingehen. Es wäre aber gerade für alle Deutsche in Ost und West eine wichtige Erfahrung.
Fakt ist, das die verbliebenen Vietnamesen aus Deutschland nicht mehr weg zu denken sind und gerade ihre Kinder eine Chance für eine normale Entwicklung wie alle Deutschen oder andere Migrantengruppen haben müssen. Einen starken Integrationswillen hat gerade die Gruppe der Vietnamesen ja immer bewiesen.
Wenn man wie ich einmal Vietnam besucht hat, ist man jedenfalls der Freundlichkeit und der ehrlichen Neugier der Einheimischen allem Neuen gegenüber bedingungslos erlegen. Ich hoffe jedenfalls, das sich dies nach der beginnenden Öffnung des Landes nach Westen hin, nicht all zu negativ für die Vietnamesen auswirken wird.
Rimini Protokolls Vùng biên giò'i: zu wenig Theater
Mir wurde zu wenig Theater gespielt und zu viel Bericht erstattet. Im Grunde waren das fast nur Monologe, in denen die Stationen des eigenen Lebens kurz angerissen wurden. Dass ausgerechnet der Vietnamese mit der Vokuhila-Frisur, der rein optisch einem härteren Menschenschlag zuzurechnen ist, nun ein Nagelstudio haben soll, verwunderte doch etwas.
Sicherlich war da einiges interessant, auch die fatale, kasernenartige Wohnsituation in der DDR und der dirigistisch akribische Tagesplan – ein Paket, das insgesamt an ein Straflager erinnerte. Wer das allerdings schon wusste – durch Gespräche oder Medieninformationen etwa -, für den war das Resultat doch etwas wenig, da die Akteure eben die Interaktion vernachlässigten. Die Wohnverhältnisse gemahnten an einen Programmpunkt der GRÜNEN aus den 90er-Jahren. Die Einheit von Wohnen, Arbeit und Einkaufen. Wer seinen Arbeitsplatz unmittelbar um die Ecke hat, braucht kein Auto und spart dadurch Energie... Nach Feierabend steht der Discounter parat und für den Abend gibt es die Mehrzweckhalle mit bunten Veranstaltungen direkt vor der Haustür. Immerhin, die Vietnamesen hatten eine ziemliche Strecke zu ihrem VEB zurückzulegen und konnten dabei optische Reize einsammeln, visuelle Energie akkumulieren.
Der klassische DDR-Greis, dessen versuchtes Hochdeutsch einen dialektalen Einschlag nicht zu verhindern vermochte, durfte natürlich nicht fehlen, zum Glück wurde sein gänzlich unschauspielerischer, mimisch spartanischer Auftritt durch die mitgeteilten Informationen halbwegs ausgebügelt.
Im Ausbalancieren von Unausgewogenheiten taten sich auch zwei Frauen hervor, die ihre Texte zumindest mit etwas verhaltenem Charme vortrugen. Doch ist Charme eine unabdingbare Eigenschaft des Theaters?
Die Definition, was denn der Kapitalismus sei, wurde von allen Personen abgeliefert, und natürlich kamen dabei nur Definitionen des Raubkapitalismus heraus. Aus Überlebensgründen wurden ja nach der Wende die Funktionsweisen des Kapitalismus übernommen, um die Heimat mit einem D-Mark-Regen versorgen zu können, und nicht das System als solches wurde abgefeiert, sondern deren damaliger Hauptverfechter und Prediger baldiger blühender Landschaften, Helmuth Kohl, „der Vater des goldenen Regens“. Aber das hat schon Caren Pfeil, Außendienst-Mitarbeiterin von Nachtkritik, erzählt.
Trotz meiner teilweise negativen Kritik - gelangweilt habe ich mich nie.
Ich freue mich, dass der omnipräsente Stefan schon einmal in Vietnam gewesen ist – hat er dort auch seinen ersten Jeans-Anzug getragen?
Rimini Protokolls Vùng biên giò'i: Wohlstandsbauch
@ Flohbär
Der Anzug passt leider nicht mehr, wegen Wohlstandsbauch. Ja auch ich bin zum Teil den Verzückungen des Raubtierkapitalismus erlegen. Und über die hier tätigen Vietnamesen muss man sich da auch keine Sorgen machen, in Asien ist man von der Mentalität her und auch aus reinen Gründen des Verdienstes für den Lebensunterhalt von Kindesbeinen an das System Kaufen und Verkaufen gewöhnt. Das wurde im Stück sehr gut dargestellt. Die großen Märkte in Vietnam funktionieren nach genau diesem System, wie in der Aufführung am Overheadprojektor zu sehen. Da bekommt man tatsächlich einen Plan in die Hand gedrückt, ohne den man sonst hilflos umherirren würde und leicht zum „Hühnchen“ wird.
Das Problem ist auch nicht Handel im kleinen Rahmen für den Eigenbedarf zu betreiben, das ist ein ureigenes Prinzip in der menschlichen Entwicklung. Zum Problem wird das erst, wenn plötzlich alle am großen „goldenen Regen“ teilhaben wollen und sich dann aber in der hier herrschenden Kapitalismusmentalität aufreiben und noch problematischer wird das, wenn dieses neue Prinzip im großen Stile in diese Länder hineinimportiert wird. Hier könnte man übrigens ohne Weiteres den Rimini-Abend über das Kapital mit dem Vietnam-Projekt kurzschließen. Ein weiteres Problem wird, die durch die Industrialisierung genau wie in China hervorgerufene Umweltverschmutzung und das bereits bestehende starke Nord-Süd-Gefälle. Mehr als 60% der Auslandsinvestitionen gehen in die Region Saigon, dort werden 30-40% des Bruttoinlandsprodukts und der Exportwaren hergestellt.

Aber lieber wieder weg von diesen ernsten Themen hin zu einer lustigen Anekdote meiner Vietnamreise und dem Wohlstandsbauch, die ich auf dem Ben-Thanh-Markt einem der größten Märkte in Saigon (Ho-Chi-Mihn-Stadt) erlebt habe. Nachdem ich mich nach einem guten Mahl zum Kaffee (mit süßer Sahne, bloß nicht umrühren) an einer langen Bar niedergelassen hatte und ich mir zufrieden und ganz unbewusst über mein volles Bäuchlein strich, bemerkte ich eine Gruppe junger Vietnamesen, die mich kichernd beobachteten. Na, da wird wohl gleich wieder einer auf mich zu kommen, um mir, seine Englischkenntnisse testend, ein Loch in den Bauch zu fragen, dachte ich bei mir. Aber weit gefehlt, als ich schon im Gedanken völlig woanders war, stand plötzlich ein kleines Mädchen vor mir, fasste kurz an meinen Bauch und sagte grinsend „Haapie Buudah“ und war wieder verschwunden.
Bei aller Härte des Lebens, vor allem in den Großstädten aber auch in den ärmlichen Bergregionen, haben sich die Vietnamesen ihr sonniges Gemüt gepaart mit einem unbändigen Willen nach selbständiger Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse bewahrt. Ich hoffe, dass ihnen das, ob nun hier oder in ihrer Heimat, noch lange erhalten bleibt.
Mein Bauch hat sich inzwischen wieder etwas zurückgebildet, nicht das der Eindruck entsteht ich kugelte mich durchs Leben.
Rimini Protokolls Vùng biên giò'i: exotistischer Blick
@ Stefan: Die Art, wie Sie hier das kleine vietnamesiche Mädchen beschreiben ("sonniges Gemüt"), klingt in meinen Ohren doch sehr romantisierend, ganz im Sinne des christlich-abendländischen Blicks auf den asiatischen Kulturraum. Das ist der exotistische Blick der weissen männlichen Hete auf die süßen VietnamesInnen. Über diese perspektivische Vereinnahmung bzw. Ausschließung des Anderen und Fremden markiert die westliche Kultur möglicherweise nach wie vor ihr Selbstverständnis. Sie mit Ihrem "vollen Buddha-Bäuchlein nach einem guten Mahl" erscheinen mir da beinahe als unfreiwillige Karikatur des ehemaligen Kolonialherren.
Kurz: Laufen Sie mit Ihrer Beschreibung der Gruppe junger Vietnamesen hier nicht Gefahr, Klischees und rassistische Vorurteile der westlichen Welt gegenüber fremden Völkern, zum Beispiel deren "Verspieltheit", "Fröhlichkeit" und "Friedlichkeit" bloß zu reproduzieren?
Rimini Protokolls Vùng biên gió’i: Materialbox online
Es gibt von Rimini Protokoll übrigens jetzt online eine Material-Box zum Stück: http://www.rimini-protokoll.de/materialbox/vung-bien-gioi/ (Konnte man am HAU2 im Foyer auch direkt an einem dort installierten Rechner anschauen.)
Rimini Protokolls Vùng biên gió’i: Gleichnis jenseits des Kolonialismus
Liebe I S
Darauf hätte man ja warten können. Glauben Sie etwa, ich würde das hier zum Besten geben, wenn ich tatsächlich den westlichen Kolonialisten raushängen lassen wollte. Sie denken einfach nicht nach und vor allem Sie lesen nicht richtig. Könnte es denn nicht auch so sein, das ich genau das Bild, was Sie beschreiben mit dieser kleinen Geschichte, die übrigens wirklich stimmt, konterkarieren wollte. Aber ich habe die Auflösung natürlich nicht sofort mitgeliefert. Sehen Sie das Ganze doch als ein kleines Gleichnis dafür, das der Mensch in der sogenannten Dritten Welt nicht den Versuchungen des Westen bedingungslos erliegen sollte, sondern sich bewusst sein muss, das zwar der kurzzeitige Gewinn winken kann, aber der Tourist oder Investor nicht ewig den lachenden Glücksbuddha geben wird. Denn genau dafür steht der Happy Buddha, wer ihm über den Bauch streicht versucht damit Glück und Reichtum zu erlangen, das ist fester Glauben nicht nur in Vietnam. Ich habe kein naives Bild des Vietnamesen abgeben wollen, ich habe genau seinen Willen nach Selbstgestaltung benannt, akzeptieren auch Sie das.
Rimini Protokolls Vùng biên gió’i: Traumtänzer
@ Stefan: Danke. Jetzt hab ich wieder was gelernt. Ich soll das einfach akzeptieren, dass Sie meine Sichtweise nicht akzeptieren. Wie schön, dass Sie wenigstens von den kleinen vietnamesischen Mädchen noch so kicherig verehrt werden. Diese Houellebecqschen Versuchungen kennt wohl jeder männliche Vietnam-Reisende. Westliche Frauen dagegen sind ja auch wirklich total kompliziert geworden. Wahrscheinlich haben die alle so ein Kindheitstrauma wie die Jelinek. Und ausserdem ist dieser böse Kapitalismus an allem dran Schuld. Buddhisten sind schon merk-würdige Traumtänzer.
Rimini Protokolls Vùng biên gió’i: vom Gender-Denken verklebt
@IS:
Wenn jemand aus dem Westen eine Vietnamesin als "süß" einstuft,ist das also der exotistische Blick eines westlichen Kolonialherren, der damit obsolete, abendländisch-überlegene Klassifizierungen perpetuiert. IS, wäre Ihnen die Bezeichnung "hässliche Kröte" lieber gewesen? Dann wird man eines solchen Selbstverständnisses nicht verdächtigt.
Aha, einer Deutschen darf man ein "sonniges Gemüt" zusprechen, aber bei einer Vietnamesin gilt das schon als koloniales Denken. In der Regel freut sich eine Frau, wenn man ihr ein - ungeheucheltes - Kompliment macht, egal wo sie herkommt. Anscheinend ist Ihnen das noch nie widerfahren.
Ihr Gehirn scheint vom Gender-Denken vollständig verklebt zu sein.
Rimini Protokolls Vùng biên gió’i: Houellebecqs Asiatinnen
@ Flohbär: Nein. Ist es nicht. Ich habe bloß auf die Problematik des westlichen Blicks auf fremde Völker und Ethnien verwiesen, der eben immer auch ein das Fremde über die eigenen Denkschemata und Schubladen vereinnahmender Blick sein KANN. Denken Sie zum Beispiel an Michel Houellebecq. Ich habe mehrere seiner Bücher gelesen und doch bleibe skeptisch, wie er die süßen kleinen sonnigen und immer willigen Asiatinnen/Kubanerinnen usw. beschreibt. Das ist Stefan nun natürlich nicht zu unterstellen, denn soweit ging er ja nicht. Aber ganz grundsätzlich würde ich trotzdem sagen, dass man das auch selbstreflexiver beschreiben könnte. Wenn ich mir zum Beispiel anschaue, wie Constanza Macras ihre TänzerInnen inszeniert, dann gefällt mir das im Vergleich besser, weil sie gerade diese (möglicherweise zum Teil auch zutreffenden) folkloristischen bzw. universalisierenden Klischees unterläuft. Über die Verstörung und Aufbrechung der Stereotypen des Eigenen und Fremden kann der Diskurs für eine permanent verändernde Neugestaltung von Kultur und Identität eröffnet werden.
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