Nackt bis auf die Wäschenummer

12. März 2023. Unweit von Leipzig lag zu DDR-Zeiten der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau, ein Heim für Drill und Indoktrination von "schwererziehbaren" Jugendlichen. Schwererziehbar gemäß DDR-Staatsdoktrin. Regine Dura & Hans-Werner Kroesinger widmen am Schauspiel Leipzig dem eiskalten Alltag in Torgau einen Dokumentartheaterabend.

Von Karolin Berg

"Letzte Station Torgau" von Kroesinger/Dura am Schauspiel Leipzig © Susann Friedrich

12. März 2023. Torgau, mit diesem Namen verbunden sind über 4.000 Jugendliche, die in der Zeit von 1964 bis 1989 im einzigen geschlossenen Jugendwerkhof der DDR diszipliniert und zu "sozialistischen Menschen", zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft, umerzogen werden sollten. Letzte Maßnahme. "Torgau": das war Ohnmacht, Machtmissbrauch, Erniedrigung, sexuelle Übergriffe – eine Hölle des Drills und der Maßregelung für Jugendliche, die dorthin verbracht wurden. In diesen Jugendwerkhof konnte man aus abstrusen Gründen kommen: weil der Vater mit 74 Jahren vorgeblich zu alt war, um sich um die Tochter zu kümmern, oder weil eine sexuelle Verwahrlosung attestiert wurde (mit zwölf Jahren), oder wegen Verhalten und Meinung der Eltern.

Torgau liegt etwa 50 Kilometer entfernt von Leipzig. Hier am Schauspiel der Messestadt, in der kleinen Spielstätte "Diskothek", dokumentiert das Regie-Duo Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura in seiner Uraufführung anhand von Zeitzeugenberichten die Erlebnisse von Jana, Helga, Tanja, Rainer und Alexander, die stellvertretend für Tausende stehen, die im Jugendwerkhof gebrochen werden sollten.

Der Drill im Jugendwerkhof

Dabei spannen Kroesinger und Dura einen Bogen von der Verbringung nach Torgau, dem Alltag mit exzessiven Leibesübungen, Gruppenstrafen bei Verfehlungen Einzelner und sieben Tage Dunkelzelle. Sie steigern sich dramaturgisch zu sexuellen Übergriffen, Selbstverletzungen und Todesfällen bis zur Auflösung des Jugendwerkhofes zwei Tage nach dem Mauerfall.

Alle müssen in Torgau mitmachen, alles wird gemeinsam getan. Das Einzige, was die Jugendlichen unterscheidet, sind ihre Wäschenummern. Im Gegensatz dazu sind die Schauspielerinnen und Schauspieler im Bühnenbild von Hugo Gretler stets vereinzelt und meiden Blick- und Körperkontakt untereinander. Gretler integriert in sein Bühnenbild auch Elemente wie die Wippe, die in Torgau im Hof auf der Sturmbahn zur körperliche Ertüchtigung stand.

Letzte Station Torgau 4 SusannFriedrich uIm Takt der Konformität: das Leipziger Ensemble im Bühnenbild von Hugo Gretler © Susann Friedrich

Die Schauspielerinnen und Schauspieler erzählen frontal zum Publikum, mit Sprechspannung – engagiert, aber völlig steril, sodass es schwerfällt eine emotionale Regung zu entwickeln. Die Geschichten werden monoton hintereinander berichtet, es gibt keine Variabilität, keine Tempoverschiebung, stattdessen schwimmt die Aufführung sehr gleichförmig dahin.

Würfelspiel mit Akkuratesse

Aus der homogenen Anordnung sticht immer wieder Teresa Schergaut heraus. Sie stellt eine Haltung zu dem Erzählten dar und strahlt aus, wogegen Torgau brutal vorging, das Rebellische, das Nicht-Konforme, das Unangepasste. Schergaut illustriert eindrücklich die Spannung, das Machtspiel zwischen David und Goliath. Es gelingt ihr, das Gefühl eines Mädchens, das eine Schüssel voll verdorbener Marmelade unter Würgen und Ekel essen muss, die ihr Körper danach schleunigst wieder ausscheiden will, körperlich erfahrbar zu machen.

Die erzwungene Konformität, von der berichtet wird, schlägt sich in der Uniformität der Inszenierung nieder. Spielszenen gibt es nicht, stattdessen werden Requisiten bewegt, wie beispielsweise drei Würfel – mit Akkuratesse und Sorgfalt werden sie gestapelt, oder betont unmotiviert auf dem Bühnenboden herumgeschoben.

Auftritt des Stasi-Spitzels

Das ändert sich mit IM Otto. Plötzlich ist da mit Christoph Müller ein windiger, piefiger, aber kreuzgefährlicher Schnösel, der seine Berichtsakte der Staatssicherheit über die Genossen Erzieher vorträgt und endlich in die Aufführung hineinzieht. Dieser inoffizielle Mitarbeiter ergeht sich fast sexuell erregt an diesem perversen System, in dem selbstredend die Überwacher ebenfalls Überwachte sind. Auch als Direktor Kretzschmar, der "Hände wie Klodeckel" hat, strahlt Müller Gefahr aus und bildet eine Metaebene zu den Zeitzeugenberichten, wenn er sachlich und nüchtern das hintergründige Erziehungskonzept erläutert. Zugleich verweist der Direktor zynisch darauf, dass er auch Diplom-Pädagoge sei – und wie sich herausstellt den Jugendlichen sexuell zugewandt war. "Wer leise redet, hat Macht", und das sind die Gefährlichen.

Letzte Station Torgau 2 SusannFriedrich uWer leise redet, hat Macht: Christoph Müller (vorne), Leonard Wilhelm (hinten) © Susann Friedrich

Nach der initialen Zündung mit IM Otto entwickelt die Inszenierung chorische Passagen, webt zwei Erzählstränge ineinander – das Spiel wird dynamischer und die Statik aufgebrochen.

Gegen Ende, wenn Leonard Wilhelm, Teresa Schergaut und Denis Grafe die resignierten, orthografisch manchmal nicht ganz fehlerfreien oder völlig sinnlosen und pubertären Inschriften auf den Bänken und Zellenwänden des Werkhofs wiedergeben, dann kriechen die Geschichten nah heran. Ein Moment der verdeutlicht, die Insassen waren keine Schwerverbrecher, als die der Staat sie behandelt hat, es waren Kinder und Jugendliche.

 

Letzte Station Torgau. Eine kalte Umarmung
Dokumentartheaterprojekt von Regine Dura & Hans-Werner Kroesinger
Uraufführung
Regie: Hans-Werner Kroesinger, Regine Dura, Konzept und Text: Regine Dura, Musik: Jonas Wehner / Warm Graves, Bühne und Kostüme: Hugo Gretler, Dramaturgie: Georg Mellert, Licht: Mattheo Fehse, Video: Fabian Polinski, Ton: Heribert Weitz, Theaterpädagogische Betreuung: Nele Hoffmann.
Mit: Paulina Bittner, Denis Grafe, Christoph Müller, Ronja Rath, Teresa Schergaut, Leonard Wilhelm.
Premiere am 11. März 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

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Kritikenrundschau

"Was völlig fehlt, sind Multiperspektive und Kontextualisierung", schreibt Michael Bartsch in der taz (14.3.2023). "Der Verdacht einer bloßen Nachinszenierung des westdeutschen Master-Narrativs drängt sich auf. Nicht alle Renitenten waren Regimegegner. Und allein wegen des Westfernsehens kam niemand in den Jugendwerkhof. Torgau war ein KZ, das wusste man in der DDR. Aber in der spießigen Bevölkerung genossen Maßnahmen gegen 'Asoziale' auch einige Unterstützung. Wer um 1970 lange Haare trug, weiß das." Fazit: "Zwei Stunden lang Zoni-Horror-Show." Kein Wort auch zu vergleichbaren Verhältnissen in westdeutschen Kinderkasernen, zu traumatisierten Insassen katholischer Internate etwa, so Bartsch. Erst das Programmheft weise etwa auf die Haasenburg GmbH hin.

"Dieser Abend ist ein ebenso bedrückendes wie wichtiges Statement zu einem sehr dunklen Kapitel der DDR, der gerade durch seinen zurückgenommen Einsatz der Mittel das Publikum im Inneren erreichen kann", schreibt Torben Ibs in der Osterländer Volkszeitung (14.03.2023). Der Abend übe sich in Zurückhaltung. Es gebe keine Darstellungen von Gewalt, keine Re-Enactments von Szenen, allenfalls Andeutungen über Requisiten. "Der Rest sind Berichte, die in kleine wirkungsvolle Bilder und Arrangements übersetzt werden."

"Die beklemmende Härte der Inszenierung entsteht aus der Collagetechnik, mit der die Regisseure die ungeschützt persönlichen Texte der internierten Jugendlichen mit den Dokumenten und Phrasen ihrer Überwacher montieren", formuliert Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (15.3.2023). Die Inszenierung müsse das nicht illustrieren, "die Berichte darüber, was dieses Disziplinarregime bei den Jugendlichen anrichtet, sind eindrücklicher, als es alle nachgebauten Zellentrakte sein könnten". Hinter dem konkreten Fall des Jugendwerkhofs Torgau werde das Muster einer totalen Institution erkennbar. "Indem die Schauspieler immer wieder die anarchische Wut, den Selbstbehauptungswillen der internierten Jugendlichen und ihren Kampf für ihre Selbstachtung zeigen, geben sie ihnen genau das, was Torgau ihnen nehmen wollte: ihre Würde."

 

Kommentare  
Letzte Station Torgau, Leipzig: Und?
Und? Wie fanden Sie denn den Abend nun selbst? Darum gehts doch in einer Kritik. Für gut geschriebene Inhaltsangaben lohnt es sich nicht, diese Seite aufzurufen.
Letzte Station Torgau, Leipzig: Aufgewühlt
Selten bin ich so aufgewühlt aus dem Theater gekommen! Ja, es ist vorwiegend Text, der diese Aufführung prägt. -Dokumentarische Produktionen bergen schnell die Gefahr, dass die Sprache unkünstlerisch wirkt und man das peinliche Gefühl hat, man sitzt in einer realen Therapiesituation (bei einem Thema wie diesem).Deshalb zuerst einmal meine Hochachtung für diese Textvorlage, die aus vielen Einzelberichten unterschiedlichster Betroffener diese in eine Bühnensprache im besten Sinne gebracht hat. Ich war unendlich froh über die Entscheidung des Regieteams, sich nicht noch auf die Texte draufsetzen zu lassen, sondern einen scheinbar lakonischen Ton für die Schauspielenden gewählt hat. Alle wussten trotzdem jederzeit, wovon sie sprachen, aber eben ohne gefühlig zu werden. Nur so, finde ich, kann man die Wucht dieser Texte überhaupt aushalten.
Für mich ist dieser Abend unendlich wertvoll, weil er den Menschen, die dieses Unrecht erleben mussten, eine Stimme gibt, die von einer großen Sensibilität im Umgang damit zeugt.
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