Wir sind auch nur ein Volk - Theater Plauen-Zwickau – Die Bühnenfassung von Jurek Beckers Fernsehserie bleibt bei Jan Jochymski (leider) nur ein lustiges Remake
Was aus Deutschland hätte werden können...
von Matthias Schmidt
Plauen, 5. Oktober 2019. Ein Autor aus dem Westen soll etwas über den Osten schreiben. Soll den Menschen im Westen, denen, die eigentlich über alles Bescheid wissen, die Menschen im Osten erklären: den Ossi, das unbekannte Wesen. Bestenfalls. Etwas näher bringen wäre auch ein Erfolg. Klingt wie eine Idee aus dem Herbst 2017. Oder 2018. Oder 2019. Stammt aber aus dem Jahr 1994 und von Jurek Becker. Der schrieb damals eine Fernsehserie für seinen Freund Manfred Krug. Krug durfte darin den arbeitslosen ehemaligen DDR-Dispatcher Benno Grimm spielen. Der Autor aus dem Westen, dem Grimm und seine Familie als Studienobjekt dienen, weiß anfangs nicht einmal, was ein Dispatcher ist. Nicht unwahrscheinlich, dass das auch heute noch so wäre. Weil die Grimms irgendwann das Gefühl bekommen, der Mann sei mit ihnen nicht zufrieden, spielen sie ihm schließlich vor, was er erwartet: das ganze Unglück einer Diktatur. Inklusive Stasi, natürlich. Ein herrlicher Stoff, damals wie heute.
Mit den Frisuren von damals
Mit der Platzierung der Bühnenfassung dieser ein wenig in Vergessenheit geratenen Fernsehserie ist Roland May, dem Intendanten des Theaters Plauen-Zwickau, ein großer Wurf gelungen. Zwei Tage nach dem Tag der Deutschen Einheit, zwei Tage vor dem Jubiläum der Plauener Demonstrationen gegen den Reform-Unwillen der DDR (ein paar Meter neben dem Theater begann dieses Musterbeispiel für die Courage der DDR-Bürger) – besser geht's nicht. Ein bisschen Nostalgie, ein bisschen Ironie, ein bisschen Utopie. Genügend Stoff für einen perfekten Theaterabend.
Ganz so perfekt kommt es dann doch nicht. Regisseur Jan Jochymski entscheidet sich nämlich nicht für eine zeitlose Fassung, die vielleicht sogar die Analogie zum immer noch und immer wieder grassierenden Helikopter-Journalismus sichtbar macht. Er entscheidet sich für eine pure Rekonstruktion der Geschichte aus dem Jahr 1994.
Lachen wie aus einem andern Land
Im Bühnenbild, einem Standard-DDR-Neubau-Wohnzimmer nachempfunden, sitzen die Grimms vor einem alten Röhrenfernseher und wälzen die Probleme von damals. In den Klamotten von damals, mit den Frisuren von damals. Sie lesen das "Neue Deutschland" und wirken total überzeichnet, ein bisschen wie Karikaturen. Man weiß jetzt gar nicht, ob und wenn ja wer sich hier über wen lustig macht. Oder ob die Inszenierung aus Versehen derart bieder ausgestattet wurde. Sohn Theo zum Beispiel mit seiner Perücke und dem angeklebtem Bart unterscheidet sich nicht von der billigen Maskerade des Schauspielers Langhans, den die Grimms buchen, um dem Besucher aus dem Westen eine Stasi-Geschichte vorzuspielen. Ein Schauspiel im Schauspiel übrigens, das hervorragend aufgeht, weil hier die Karikatur gewollt ist.
Ansonsten aber bleibt das Konzept unscharf, zumal dieser Theo mit Gitarre und berühmten DDR-Songs den ganzen Abend musikalisch zusammenzuhalten soll. Auch hier, perfekt ausgewählt die Lieder: Pankows "Langeweile" (Ich bin rumgerannt, zu viel rumgerannt, ist doch nichts passiert) und Citys "Wand an Wand" (Wenn du lachst, klingt es herüber wie aus einem andern Land). Aber weder inhaltlich noch musikalisch entstehen die Gänsehaut-Momente, die dem Abend eine über den doch phasenweise ziemlich angestaubten Klamauk hinausgehende Atmosphäre hätte verleihen können. Momente, die mit diesen Songs und ihren Texten durchaus möglich gewesen wären. Mit ein bisschen Pathos, ohne Bart und Perücke.
Gute deutsche Musik
Jochymskis Inszenierung arbeitet schön heraus, wie viele der alten Jurek-Becker-Pointen immer noch zünden. Sie sind noch gültig, sozusagen, was ja zugleich lustig und erschreckend ist. Es wird sehr viel gelacht. Über das Unwissen der Wessis und die Unbeholfenheit der Ossis. Über die Missverständnisse zwischen beiden. Und über den Dialekt, denn, ja, es wird nach Kräften berlinert. Dass in dem Thema neben befreiendem Humor auch immer noch Potential für echte Empörung steckt, zeigt sich, wenn wahre Sätze über die Treuhand und andere Defizite des Beitritts ausgesprochen werden. Da gibt es Szenenapplaus.
Dass es der Inszenierung gänzlich an Tiefe fehlt, kann man also nicht sagen, aber sie ist schmal dosiert, sehr schmal. Gleich zu Beginn ist sie da, wenn "Winds of Change" von den Scorpions läuft und Steinheim, der Mann aus dem Westen, fragt: "Was hätte aus Deutschland werden können, wenn wir damals die gute deutsche Musik gehört hätten?" Pankow vielleicht. Das holt die Inszenierung immerhin nach. Vielleicht auch Ton Steine Scherben, das hätte ebenfalls gepasst, "der lange Weg, der vor uns liegt, führt Schritt für Schritt ins Paradies". Gute Frage, der die Inszenierung dann leider nicht weiter nachgeht. Stattdessen bleibt sie in ihrer – auch formalen – Eintönigkeit doch hinter den Möglichkeiten des Stoffes zurück.
Am Ende kommt das Beste, und es verbindet wie keine andere Szene des Abends das Gestern mit dem Heute. Plötzlich vertragen sich Nostalgie und Ironie und Utopie. Alle feiern zusammen, der Osten mit dem Westen. Alle lachen mit- und übereinander, erinnern und vertragen sich und singen schließlich den legendären Renft-Song "Als ich wie ein Vogel war". Wer es nicht kennt, bitte googeln, lohnt sich. "Irgendwann will jedermann raus aus seiner Haut, irgendwann denkt er dran, wenn auch nicht laut …" Ein bisschen mehr davon, nur ein bisschen, und ein bisschen weniger Retro-Theater, dann hätte diese Inszenierung den Platz zwischen dem Gestern und dem Morgen perfekt gefüllt. So war sie im Grunde nur ein lustiges Remake der Fernsehserie. Vom Publikum in Plauen gab es dafür Standing Ovations.
Wir sind auch nur ein Volk
Komödie nach den gleichnamigen Drehbüchern von Jurek Becker. Bühnenfassung von Kerstin Behrens und Tom Kühnel.
Regie: Jan Jochymski, Bühne und Kostüme: Thurid Goertz, Dramaturgie: Maxi Ratzkowski.
Mit: Daniel Koch, Julia Hell, Olaf Hais, Else Hennig, Marcel Kaiser, Michael Schramm, Alexander Bräutigam, Peter Princz.
Premiere am 5. Oktober 2019
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.theater-plauen-zwickau.de
Kritikenrundschau
"Die Gemengelage funktioniert auf der Bühne schon wegen der großartigen Becker-Dialoge mit ausgesprochen unterhaltsamer Schärfe", findet Tim Hofmann in der Freien Presse (6.10.2019). Regisseur Jan Jochymski habe "einen guten Kniff gefunden, dabei kein Chaos ausbrechen zu lassen: Die Ossis lässt er als sympathische Holzschnittfiguren stehen und vertraut dem Zuschauer, die Zwischentöne aus eigener Erfahrung mitzudenken". Das Premierenpublikum habe sich entsprechend begeistert gezeigt und "sprang beim Schlussapplaus von den Sitzen".
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ich, als Zuschauerin der Premiere, finde es mehr als unfaire für all die Leser so eine das Schauspiel demütigende Kritik aufzutischen. Wenn man mit bestimmten Erwartungen in die Premiere geht, braucht man es erst sich gar nicht anzuschauen, denn niemand und keiner kann Ihre Erwartungen erfüllen. Ein offener Verstand könnte dagegen viel Freude und schönen Abend verleihen. Ich hoffe dass der Regisseur, die Schauspieler und all die anderen Mitarbeiter (Gott weiß wie viele für die Premiere Tagelang gearbeitet haben..) sich von Ihrer Kritik nicht demotivieren lassen und noch viele weitere Zuschauer viel Freude am Stück haben. Denn das Stück als "eintönig" zu beschreiben ist wirklich mehr als primitiv, Herr Kritiker.
Viele Grüße aus dem schönen Vogtland, Mona F.
der "Herr Kritiker" ist, wenn ich das richtig verstehe, grundsätzlich angetan von dem Stück. Vor allem von der Idee, es gerade in Plauen in dieser Zeit zu inszenieren. Auch davon, dass "die Jurek-Becker-Pointen noch zünden". Er lobt das Ende und die am Anfang angelegte Idee einer zweiten Ebene, die sich seiner Meinung nach nur nicht erfüllt. Am Ende aber sehr wohl. Daher: als demütigend habe ich das nicht gelesen. Eher eben als (vergleichsweise freundliche) Theater-Kritik, die ist so und soll so sein, dass sie Stärken und Schwächen sucht und eben nicht nur nach dem Beifall am Ende geht. Also ich fand das nicht unfair.