Vom voreiligen Griff nach der Wahrheit

8. September 2024. Der Autor Ferdinand von Schirach ist der King of Gerichtsdrama. In seinem neuen Stück "Sie sagt. Er sagt." nimmt er sich das Thema Vergewaltigung vor. Und zeigt uns die Fallstricke der Wahrheitssuche. Regie bei der Uraufführung in der Wiener Josefstadt führt Sandra Cervik.

Von Reinhard Kriechbaum

"Sie sagt. Er sagt." von Ferdinand von Schirach in der Josefstadt Wien © Moritz Schell

8. September 2024. Vom "voreiligen Griff nach der Wahrheit" ist im Epilog die Rede – und damit spricht Ferdinand von Schirach einen für seine Gerichtsdramen entscheidenden Punkt an. Im Lauf seiner Jahrzehnte währenden Arbeit in Gerichtssälen hat der schreibende Strafverteidiger und Autor zahlreicher Erzählungen, Romane und Stücke die Regulative, auch Einengungen der Strafprozessordnung schätzen gelernt: "Sie kanalisieren unsere Wut, sie ordnen unsere schwankenden Gefühle, Zorn und Rache lehnen sie als Ratgeber ab."

Doppelt wichtig, wenn es um das im Regelfall die Emotionen aufkochende Thema Vergewaltigung geht. Und genau deshalb wohl verzichtet der Autor in "Sie sagt. Er sagt." auf das, was seine Bühnen-Bestseller "Terror" oder auch "Gott" bei jeder Aufführung aufs neue spannend macht: das Publikumsvotum.

Fintenreiche Argumentationsketten

Wir finden uns also, übliches Setting bei Ferdinand von Schirach, im Gerichtssaal. Nach vierjähriger Beziehung haben sich eine prominente Talkshow-Journalistin und ein nicht minder namhafter Wirtschaftskapitän getrennt, angeblich einvernehmlich. Eine zufällige Wiederbegegnung der beiden hat zu einer sexuellen Handlung geführt. War es eine Vergewaltigung, wie es die Journalistin nun beschreibt? Der Angeklagte schweigt, dafür entwirft seine Verteidigerin ein ganz anderes Bild. Demnach sei ihr Mandant Opfer eines Racheakts der Frau, nachdem er – eben einseitig und keineswegs im Einverständnis mit ihr – die Beziehung aufgekündigt hatte.

SiesagtErsagt1 1200 Moritz SchellDas Gerichtspersonal im Bühnenbild von Walter Vogelweider © Moritz Schell

Ferdinand von Schirach, der Prozess-Intimus, kennt fintenreiche Argumentationsketten und Beweisführungen von Anklägern und Verteidigern. Und er führt uns die Personage vor, die in einem solchen Prozess zu Wort kommt, von der Gerichtsmedizinerin über die Psychologin und die Polizeikommissarin bis zu einer guten Freundin der (angeblich?) Vergewaltigten. Sie muss zum Beispiel erklären, warum die Frau, die sowohl bei den polizeilichen Vernehmungen wie auch jetzt vor Gericht so bemerkenswert reflektiert und cool argumentiert, unter Freunden als "Drama Queen" gegolten hat. Die Bild-Zeitung und Social Media sind auf diesen Zug längst aufgesprungen, die mediale Vorverurteilung des Opfers als Verleumderin ist also im Laufen.

Schulfunktauglich

In "Terror" und "Gott" geht es um ethisch knifflige Rechtsfragen, in dieser Vergewaltigungs-Geschichte ist die Psychologie, sind mögliche Beweggründe zur Tat oder Tat-Behauptung das Hauptthema. Der Autor weiß bekanntlich spannend und dramaturgisch klug dosierend zu erzählen.

Hier bringt er auch geschickt viel Basiswissen ein. Er lässt die Sachverständigen über Dunkelziffern, über Gründe späterer Anzeigen und auch über die Verfasstheit vergewaltigter Frauen berichten. Insofern ist "Sie sagt. Er sagt." auch schulfunktauglich. "Es gibt keine Wahrheit um jeden Preis", lässt Ferdinand von Schirach im Epilog sagen, und das zeigt er auch immer wieder, indem er in den vermeintlichen Gerichtsbericht unerwartete Wendungen einbaut, die auch sehr plausible Behauptungen relativieren.

Juristerei auf schwankendem Boden. Ja, da haben sich eindeutige Spermaspuren auf einem Kleid gefunden – aber hat die Frau dieses Kleid überhaupt getragen an dem Tag der Vergewaltigung? Aufnahmen von Überwachungskameras in einer Hotellobby und in einem Stiegenhaus bringen die Anklage gehörig ins Strudeln, bis ein Taxifahrer, der ganz unverhofft aufkreuzt im Gericht, zumindest in dieser Sache Klarheit schafft. Aber was ist schon Klarheit?

Mit großen Plädoyers

In den Kammerspielen der Josefstadt hat Sandra Cervik, regieführendes Ensemblemitglied, ihre Kolleginnen und Kollegen ziemlich optimal besetzt. Hauptfiguren sind die beiden Anwälte: Joseph Lorenz ist Anwalt der Frau, eine Mischung aus galligem Routinier und besserwisserischem Grandseigneur seiner Zunft. Er redet gerne dazwischen und attackiert die Verteidigerin des Beschuldigten.

SiesagtErsagt2 1200 Moritz SchellAuf schwieriger Wahrheitssuche: Oliver Rosskopf (Oberstaatsanwalt Heise), Ulli Maier (Vorsitzende Richterin am Landgericht), Johannes Weninger (Beisitzender Richter), Karin Yoko Jochum (Valerie Maiburg) © Moritz Schell

Martina Stilp ist aber nicht minder auf Kollisionskurs zum alten Kollegen, alert, eloquent, immer sprungbereit. Ist die mutmaßlich Vergewaltigte – Silvia Meisterle – nun Opfer oder baut sie intellektuell gewieft an einem Lügengebäude, um den einstigen Geliebten zu ruinieren? Dem hat seine Verteidigerin ja ein Schweigegebot auferlegt – Herbert Föttinger macht also fast eindreiviertel Stunden lang ein Pokerface. Man denkt schon fast, dass der Autor mit dem Stücktitel "Sie sagt. Er sagt." eine Finte gelegt hat. Aber dann redet der Mann doch. Das ist ein beinahe von Humanismus geprägtes Plädoyer in eigener Sache, das freilich mit einer überraschenden Wendung wieder relativiert wird.

Eine Fernsehadaption des Stücks hat es heuer, ein halbes Jahr vor der Bühnen-Uraufführung jetzt in der Josefstadt, schon gegeben. Man darf trotzdem keine Einzelheiten verraten, die Sache lebt schließlich von der Spannung und den sich immer wieder wandelnden Blicken aufs nur scheinbar Offensichtliche. Groß das Plädoyer des Anklagevertreters, das wohl Denk- und Diskussionsstoff für ein ganzes juristisches Seminar für Richteranwärter hergäbe. Dieser Prozess jedenfalls wird vertagt.

 

Sie sagt. Er sagt.
Ferdinand von Schirach
Regie: Sandra Cervik, Bühnenbild: Walter Vogelweider, Kostüme: Birgit Hutter, Video: Jan Frankl, Licht: Sebastian Schubert, Dramaturgie: Silke Ofner.
Mit: Ulli Maier, Oliver Rosskopf, Joseph Lorenz, Silvia Meisterle, Martina Stilp, Herbert Föttinger / Ulrich Reinthaller, Susa Meyer, Wiltrud Schreiner, Larissa Fuchs, Karin Yoko Jochum, Marcello De Nardo, Ortrun Obermann-Slupetzky / Peta Klotzberg, Johannes Weninger, Gerd-Peter Mitterecker.
Premiere am 7. September 2024 in den Kammerspielen der Josefstadt
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten, keine Pause

www.josefstadt.org

 

Kritikenrundschau

"Das Stück macht, was von Schirach bestens kann: eine volksbildnerische Gebrauchsdramatik, die allerhand Aspekte zu einem Thema aufs Tapet bringt", berichtetet Michael Wurmitzer im Standard (8.9.2024). Die Komposition "ergibt eine vorhersehbare, weil aber mehrmals überraschend neue Beweise die Richterin (Ulli Maier) erreichen, solide Spannung." Sandra Cerviks Inszenierung verlasse "sich auf Gesten, Blicke. Aber die wirken, und als Zuschauer schwankt man mit seinem Urteil mal auf diese, mal auf die andere Seite. Ein zu erwartender Erfolg, viel Applaus."

Von einem "großartigen Stück, das Parteinahme meidet", und einem Ensemble, das "klug dirigiert" erscheint, berichtet Thomas Kramer in der Presse (9.9.2024). "Der Zuseher, wohl auch die Zuseherin, lässt sich von Seite zu Seite ziehen, weiß selbst bald nicht, was wahr ist. Weder platte #MeToo-Schemata noch gegenteilige männliche Klischees setzen sich fest. Und am Ende, wenn man sich endlich ein Bild gemacht hat, kommt jäh ein ungeahntes neues Beweismittel…"

"Was bleibt von diesem Abend? Durchaus nicht uninteressant, nicht nur für angehende Juristen, verliert sich dennoch die Spannung recht bald", schreibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.9.2024). Es handele sich "eher um ein Lehrstück über die bisweilen schwierige Situation der Richter und auch den Umgang mit juristischen Plattheiten wie 'in dubio pro reo'".

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