Hinter tausend Kulissen (k)eine Welt?

3. Juni 2023. Ein kafkaeskes, erschreckend lebensnahes Projekt verfolgt der Dorfbewohner Simon Frank. Mariano Pensotti stellt es bei den Wiener Festwochen in einem fiktiven Dokumentartheater mit mehreren ineinander verschachtelten Erzählebenen vor. Was ist fake und was ist echt?

Von Andrea Heinz

"La Obra" von Mariano Pensotti und Grupo Marea bei den Wiener Festwochen © Nurith Wagner Strauss

3. Juni 2023. Wer die Ankündigung auf der Festwochen-Homepage liest, wird leicht in die Irre geführt: Als "gefinkeltes Storytelling" wird Mariano Pensottis fiktives Dokumentartheater "La Obra (Das Stück)" da angepriesen, "verschachtelt wie eine Matrjoschka-Puppe". Und da muss man sagen: Naja. Das stimmt schon, aber – sorry für den fiesen Netflix-Vergleich – wer mal eine Serie wie, sagen wir, "Dark" gesehen hat, den werden die paar Erzählebenen nicht vom Hocker reißen.

Warschau wird wiedererrichtet

Was haben wir? Vor der halbrunden, offenen Wand, die die Drehbühne im Jugendstiltheater am Steinhof auf einer Seite begrenzt, die Bewohner*innen (Alejandra Flechner, Diego Velázquez, Susana Pampin, Horacio Acosta, Pablo Seijo) des argentinischen Kaffs Coronel Sivori. Sie lehnen an der Wand, sitzen an Tischen zusammen, spielen Brettspiele, essen Torte – und erzählen von einem gewissen Simon Frank, der einst in ihre Gemeinde kam. Ein polnischer Jude, knapp dem KZ entkommen, in dem seine Familie ermordet wurde. Und eines Tages fängt dieser neue, ein wenig seltsame, aber offenbar doch von allen als mehr oder weniger liebenswert eingeschätzte Nachbar an, etwas zu bauen: Er baut sein Zuhause in Warschau nach.

Sein Projekt nimmt immer größere, kafkaeskere Züge an, bis auf einer Brachfläche im Ort schließlich die halbe Bevölkerung Passionsspiel-mäßig das Leben von Simon Frank nachspielt, in einem originalgetreu nachgebauten Warschau, mit zunehmend spektakulären Effekten, immer mehr Publikum und befremdlichen Szenen: Die grausame Realität im KZ will Frank lebensnah abbilden. Im Fernsehen wird über das Phänomen berichtet, und sogar einen Souvenirshop zum Event gibt es im Ort, betrieben vom Veteran Rubén, der von Kindesbeinen an mitgespielt hat.

Andere Sicht auf die Geschichte

Während die vermeintliche argentinische Dorfbevölkerung das alles recht konventionell, mit verteiltem Text über die Rampe hinweg erzählt, wird hinter der Wand, auf der anderen Seite der beständig sich drehenden Bühne, eine andere Sicht auf die Geschichte präsentiert: die von Walid (Rami Fadel Khalaf), einem in Lyon lebenden Libanesen, der seine Heimat fluchtartig verlassen hatte, nachdem sein Vater im Krieg als vermeintlicher Verräter ermordet worden war.

LaObra2 Nurith Wagner Strauss cErzähler des Making-of: Rami Fadel Khalaf © Nurith Wagner Strauss

Traumatisiert von seiner eigenen Geschichte liest er im Guardian über Simon Frank und dessen Passionsspiele und reist nach Argentinien, wo er zunehmend obsessiv wird. Er trifft die Dorfbewohner*innen, die über die Jahrzehnte zu Teilzeit-Schauspieler*innen wurden, und steigt immer tiefer ein in ihre Geschichte und die des Stückes – das mittlerweile, nach einer schockierenden Enthüllung, abgesetzt ist. Aus dem Opfer wird mit einem Schlag ein Kriegsverbrecher, für manche der Passionsspieler*innen werden in einer Sekunde lebenslange Gewissheiten pulverisiert.

Walid zeigt Fotos und Videos, Skizzen der von Simon Frank nachgebauten Gebäude auf der vertrockneten Wiese, alles projiziert auf die Innenseite der Wand. Und schließlich wird klar: Die Dorfbewohner*innen, die man die ganze Zeit gesehen hat, sind in Wahrheit Schauspieler*innen, die im Stück, das Walid über die Geschichte der Inszenierung von Simon Frank gemacht hat, jene Dorfbewohner*innen spielen, die durch das Stück zu Schauspieler*innen werden. Das war's dann auch mit der Verschachtelung.

Erlösung in der Fiktion?

Ist der Abend in der ersten Hälfte noch eine durchaus faszinierende Reflexion über die Realität des Spiels und die Falschheit der Realität, über Nähe in der Distanz und Fremde in der engsten Umgebung, über den Umgang mit Erinnerung und wie man in der Fiktion Wahrheit, vielleicht sogar Erlösung finden kann, verliert er genau diese Faszination mehr und mehr. Am zurückgenommenen Spiel des Ensembles liegt das nicht, auch nicht an der reduzierten, atmosphärisch dichten Ausstattung, die auch von dem Musiker Diego Vainer an der E-Gitarre ergänzt wird (die zweite Hälfte des Gitarrenduos, in dem Walids Vater spielte). Eher daran, dass das Ganze zu selbstbezogen, zu verliebt in sich und die eigene Idee ist.

LaObra4 Nurith Wagner Strauss cWas ist Simon Franks Kulissen-Warschau: Obsession oder befreiendes Spiel? © Nurith Wagner Strauss

Das spiegelt sich sehr schön in der Geschichte des Regisseurs Walid, der sich wie besessen mit der Geschichte Simon Franks beschäftigt, um so die eigenen Erlebnisse vom gewaltsamen Tod des Vaters verarbeiten zu können – und Frau und Kind mal eben sechs Monate allein in Lyon hocken lässt, ohne auch nur einen ihrer Anrufe zu beantworten. Dass sie ihm diese Ich-Bezogenheit nicht nur nicht übel nehmen, sondern bei seiner Rückkehr einfach so tun, als sei nichts gewesen, kann man nur mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Es muss sich hierbei um Fiktion handeln.

 

La Obra (Das Stück)
von Mariano Pensotti / Grupo Parea
Spanisch, Französisch mit deutschen und englischen Untertiteln
Regie: Mariano Pensotti, Bühne, Kostüme: Mariana Tirantte, Musik: Diego Vainer, Licht: David Seldes, Video: Martin Borini, Jose Jimenez, Dramaturgie: Aljoscha Begrich.
Mit: Rami Fadel Khalaf, Alejandra Flechner, Diego Velázquez, Susana Pampin, Horacio Acosta, Pablo Seijo; Julián Rodríguez Rona.
Uraufführung am 2. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.festwochen.at

 

Kritikenrundschau

"Der Jubel war zurecht groß für die Beteiligten an diesem kleinen, meisterlichen Stück-im-Stück-im-Stück", berichtet Ronald Pohl im Standard (3.6.2023). Pensottis wählt den "Weg eines Making-of, um die Keuschheit seines vermeintlich dokumentarischen Ansinnens zu wahren. Die Spielszenen besitzen allesamt den Zeigegestus des Brecht’schen Theaters. Sie sind schlicht und zugleich abgefeimt, sie blenden die heutige Realität und ein 'legendäres' Gestern ineinander, und sie schmeicheln mit wahrhafter Tücke einem Publikum, das, an Netflix geschult, sämtliche Spiegelstadien des Fiktionalen summa cum laude durchlaufen hat."

"Interessant ist an diesem Verwirrspiel wie sich das Ritual verselbstständigt und die Kräfte und Leben der Darsteller bindet – ihre Lebensläufe und das Stück werden immer verwobener", berichtet im ORF (3.6.2023) Florian Baranyi, für den an diesem Abend allerdings "die Frage offen blieb, ob nicht eine erzählerische Ebene weniger geholfen hätte, diesen dichten Abend ein wenig aufzulockern".

Das "Spiel im Spiel im Spiel enttäuschte keineswegs", berichtet Norbert Mayer in der Presse (4.6.2023). "Im Laufe von 90 Minuten entstanden diverse Welten im Kopf, sie zwangen die Betrachter mehrfach, die Blickrichtung zu ändern. Die Wirklichkeit ist eben nur ein Konstrukt, wurde hier fantasievoll vermittelt." Regisseur Mariano Pensotti "versteht es genau, gleich ein halbes Dutzend Leben und Lebenslügen fesselnd in ein recht kurzes Stück zu packen (...), das auf der Gitarre passend sentimental begleitet wird. Das Ensemble stellt durchaus professionell Laienschauspieler dar, die immer stärker in diese fantastische Fiktion hineingezogen werden."

Kommentar schreiben