Die höchste Form von Leben

17. Mai 2023. In seiner Performances "Timescape" reist Keyvan Sarreshteh in der Zeit – und aktualisiert mit seinen Berichten davon die Kunst des Geschichtenerzählens. Ein faszinierender Abend, der nach dem Wesen der Zeit und der Erinnerung fragt; danach, was es bedeutet zu sein.

Von Gabi Hift

"Timescape" bei den Wiener Festwochen © Nurith Wagner Strauss

17. Mai 2023. "Hier ist jetzt." Ein bebrillter, bärtiger junger Mann demonstriert mit ausgebreiteten Armen, was er mit "hier" meint: den vorderen Bereich der Bühne des Hamakom Theaters. Es ist der iranische Theatermacher Keyvan Sarreshteh, der uns in seine Gedankenwelt "Timescape" einführt, die Zeit als Landschaft, die Zeit als Flucht. "Hier", sagt er, "ist jetzt". In diesem "jetzt" befindet er sich in der Rolle des Erzählers und um das zu markieren, setzt er einen gelben Bauarbeiterhelm auf. Sobald er den Helm abnimmt und in den Bühnenraum hineingeht, ist er der "Zeitreisende", von dem die Geschichte handelt.

Nicht mit "Hallo" anfangen

Sarreshteh ist ein begnadeter Erzähler, ernsthaft, unaufgeregt und darauf bedacht, dass alle ihm folgen können. Er erzählt auf Farsi, und er kümmert sich darum, dass man nicht mit dem Blick zwischen ihm und den Übertiteln springen muss und den Faden verliert.

Der Zeitreisende befindet sich in einem einfachen Zimmer, hinter einer vierten Wand. Er ist dabei, seine Geschichte mit einem Kassettenrecorder aufzunehmen. Auf einem kleinen Metalltisch steht ein Overheadprojektor, dahinter eine weiße Wand, auf die er Fotonegative projiziert, mit denen er seine Erinnerungen anregt. "Hallo", nimmt er auf. "Das ist Band drei. Wenn Sie hier im Zimmer niemand vorfinden, dann bin ich weg und werde nicht zurückkommen. Sie müssen das Band bis zum Ende anhören." Gleich darauf drückt er die Stopptaste und nimmt auf der Rückseite Verbesserungsvorschläge für den nächsten Versuch auf: Nicht mit "Hallo" anfangen. "Mit einem spannenden Aufhänger beginnen, damit die Leute weiter zuhören."

Zurück in die Zukunft

Sarreshteh, nun wieder als Erzähler mit gelbem Helm, berichtet, wie der Zeitreisende zuerst nur in seine eigenen Erinnerungen zurückreisen konnte. Später konnte er auch in fremde Orte, an denen er nie gewesen war. Mit Hilfe von Werkzeug konnte er die Rückkehr in Erinnerungen an sein eigenes Leben steuern. Zum Beispiel gibt es einen Löffel, der ihn immer in die Nähe des Hauses brachte, in dem er aufgewachsen war. Dann wurde er zum ersten Mal gegen seinen Willen an einen Ort und in eine Zeit katapultiert, die er nicht kannte.

Bei dieser ersten unfreiwilligen Zeitreise setzt der Bericht auf den Tonkassetten ein. An diesem Tag lernt er zwei Menschen kennen, zu denen er dann immer wieder in verschiedene Zeiten zurückkehrt. Sie dienen ihm als Anker. Er besucht irgendwann auch die Großmutter des Mannes in ihrer Jugend, tanzt auf der Hochzeit der beiden, hält ihr Baby im Arm, bekommt auf der Beerdigung von der dann schon erwachsenen Tochter das Fotoalbum ausgehändigt, das nun vor ihm auf dem Tisch liegt. Man kann vermuten, dass es sich um Fotos von Sarreshtehs Eltern handelt, aber alle persönlichen Bezüge sind entfernt, sie gehören jetzt nur noch zur Erinnerung des Zeitreisenden und für den sind die beiden, als er ihnen das erste Mal auf einer Hotelterrasse begegnet, Fremde. Er versucht in immer neuen Anläufen die Chronologie seiner Zeitreisen mit den Fragmenten der Lebensgeschichte der beiden, die einer ganz anderen Chronologie folgen, zu einer gemeinsamen Geschichte für die Tonbänder zusammenzukriegen.

Allein auf der Bühne kann er sich in der Gegenwart verankern

Der Erzähler spricht von außerhalb des Zimmers über die verschiedenen Formen des Gedächtnisses, über den Erfinder der Memnonik, Simonides von Keos und darüber, was er selbst mit dem Zeitreisenden gemeinsam hat: dass er die Gegenwart nie in dem Moment erleben kann, in dem sie geschieht, sondern erst später, in der Erinnerung. Einzig und allein auf der Bühne, wenn jede Person im Publikum sich aus den spärlichen Informationen, die er gibt, eine eigene lebhafte Geschichte baut, kann er sich in der Gegenwart verankern.

Timescape 5332 c Nurith Wagner StraussSpuren einer Zeitreise © Nurith Wagner Strauss

Es ist äußerst beeindruckend, wie Sarreshteh mit spartanischen Mitteln die Menschen im Raum in seinen Bann zieht. Wie es ihm gelingt Spannung zu erzeugen mit einer Geschichte, die nach dem Wesen der Zeit und der Erinnerung fragt; danach, was es bedeutet zu sein.

Von der Notwendigkeit des Geschichtenerzählens

Nach dem begeisterten Applaus ergreift er noch einmal das Wort und berichtet, dass das Stück nicht von ihm allein erarbeitet worden ist. Zahra und Ramin, die eigentlich hier sein sollten, konnten nicht einreisen, ihnen wurde das Visum verweigert. Er zeigt die beiden Plätze in der ersten Reihe, auf denen sie hätten sitzen sollen. Und als die Leute für sie klatschen, versichert er, die beiden wären gerade sehr viel lebendiger und realer mit uns im Saal als er selbst. Und tatsächlich kann man das spüren und verstehen: Er hat unsere ganze Vorstellungskraft auf die beiden gelenkt und das hat sie anwesend werden lassen, während er selbst bereits hinter der Erinnerung an den Erzähler und den Zeitreisenden verschwindet.

In "Timescape" kann man erleben, wie eine mächtige, alte Erzählform im Gewand einer Performance aufersteht. Ein paar Gegenstände, zwei, drei Lichtstimmungen, und ein ernsthafter Glaube an die Notwendigkeit des Geschichtenerzählens genügen für einen faszinierenden Abend. Was für ein schöner, Gedanke: dass die bei einer Theatervorstellung kollektiv erschaffene Wirklichkeit die höchste Form von Leben sein könnte, vielleicht sogar die einzig wahrhaft gegenwärtige.

Timescape
von Keyvan Sarreshteh
Konzept und Kreation: Keyvan Sarreshteh, Zahra Mohseni, Assistenz: Ramin Ziaee, Sound: Kaveh Abedin, Licht: Ali Kouzehgar, Produktionsleitung: Raha Rajabi. Produktion Nowrouze Honar Theatre Koproduktion Wiener Festwochen, Points communs, Nouvelle scène nationale de Cergy-Pontoise et du Val d'Oise.
Mit: Keyvan Sarreshteh.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.festwochen.at


Kritikenrundschau

"Keyvan Sarreshteh setzt seine erzählerische Gabe bei den Wiener Festwochen mit minimalen dramatischen Mitteln um", schreibt Norbert Mayer in Die Presse (19.5.2023). Das einstündige Solo sei "schlicht, aber beeindruckend".

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