Der Sandmann – Am Theater Ansbach rahmt Susanne Schulz E.T.A. Hoffmanns Erzählung musikalisch
Das Skelett der Romantik
von Christian Muggenthaler
Ansbach, 20. Oktober 2018. E.T.A Hoffmanns Erzählungen sind durchwoben von einem großen Spaß am Düsteren, Somnambulen, das Offene wabert aus ins Rätselhafte. Doppelgänger und Automatenwesen sorgen für eine beständige Unsicherheit, Wirklichkeit neigt zur Brüchigkeit. Mesmerismus, Punschgetränke und die Lust, die Phantasie im Sprechzimmer des Wahnsinns anzusiedeln, verrühren sich bei ihm zu einem teuflischen literarischen Elixier. Nach dessen Einnahme wird hinlänglich unklar, wo jetzt genau noch mal die Nahtstelle ist zwischen Verschwörung und Paranoia, zwischen Spiegelbild und Schizophrenie.
Hoffmanns Welten sind so bildstark, so phantastisch gruslig, dass die Bühne ihn schnell entdeckte. Man muss ja nur hineingreifen in die Kiste seiner Geschichten und hat fetten Erzählstoff genug, pralle Figuren, pfundweise Durchgedrehtes, Leidenschaft und Sinnlichkeit. Man kann aber auch hineinlangen und ein Gerippe herausziehen, durch das es hindurchzieht, statt dass es einen in die Geschichte hineinzieht. Und zwar dann, wenn man immer fein säuberlich an der Mechanik der Geschichte entlangerzählt – statt die Bilder zu zeigen, die diese Mechanik hervorruft. Genau das ist jetzt am Theater Ansbach passiert.
Dort hat sich ein Theaterteam der berühmten Erzählung "Der Sandmann" angenommen: Da ermordet – womöglich – der augenraubende "Sandmann" Coppelius den Vater des sensiblen Kindes Nathanael, der diesen Mörder – vielleicht – Jahre später wiederentdeckt, in eine mystische Zwischenwelt gerät und sich in eine automatische Sängerin verliebt. Eine Wahnsinns-Geschichte fürwahr, die nun also von Friederike Köpf dramatisiert und von Susanne Schulz inszeniert und aufgeführt wurde.
Blendwerk der Mechanik
Die Bühne (Ausstattung: Jan Hax Halama) ist ganz im Schwarz der so genannten schwarzen Romantik gehalten, als deren besonders schwarzer Vertreter Hoffmann gilt. Drei Clubsessel stehen herum, die Herrschaften sind in Abendgarderobe und Smoking gewandet. Aus einem Fernseher heraus schaut und spricht Nathanaels wohl nur in der Phantasie existierender Freund Rufus, in Ansbach Gerald Leiß als pausbäckig-wahnwitziger "Clockwork Orange"-Wiedergänger. Die Automate Olimpia ist als einzige nicht schwarz, sondern leuchtfuchtelsignalrot.
Im Schwarz der Schwarzromantik: Anna Mariani, Andreas Peer, Hartmut Scheyhing © Jim Albright
Von Anfang an wird kontinuierlich brav an den Weichen und Gleisen der Handlung entlang erzählt, als ob der Theaterabend eine automatische Eisenbahn zu sein habe. Eine Übersetzung der Erzählung in Bühnenleben findet nicht statt. Man sieht zwar andauernd, was gewollt war, sieht aber ebenfalls permanent, dass nichts davon konsequent durchgezogen wurde. Hoffmann nutzt das Blendwerk der Mechanik, um eine Geschichte darzustellen, hier wird eine Geschichte genutzt, um das Blendwerk der Mechanik zu zeigen. Bei allem Pittoresken mit einem halben Dutzend Glitzerkugeln, manchmaligen Bühnennebelschwaden und bisweiligem Symbolgewinke ist es ziemlich fatal, wenn ein Meisterwerk der Phantastik quasi ohne Bühnenphantasie auskommen muss und es praktisch keine eigenständigen Bilder gibt.
Musik als Kommentar zur Handlung
Nun soll dieser Theaterabend auch noch ein Pop-Musiktheater sein, weswegen Hartmut Scheyhing und Lys Jane Lieder hinzugeschrieben haben, ein Tun, das ebenso inkonsequent wirkt: hinzugefügt, nicht hineingewoben. Die Figur der Olimpia, die Lys Jane gibt, kann nicht funktionieren, weil sie nicht nur die die seelenlose automatische Sängerin darstellt, sondern ihre Lieder zugleich von Beginn an nicht unempathisch die Handlung kommentieren. Das macht Lys Jane zwar schön, aber die so zerrissene Figur bringt nichts voran und hat keinerlei dramaturgische Funktion. Sie singt halt recht ausführlich.
Olympe und ihre Lieder: Lys Jane mit Gitarre neben Hartmut Scheyhing © Jim Albright
Musik wie Haupthandlung spielen sich in gefasster Getragenheit ab. Es wird im Ausdrucksreichtum einer Beerdigungsprozession immerzu reichlich ernsthaft gestarrt. Aus diesem Konzept kann kein Spieler entfleuchen. Sergej Czepurnyi ist als Nathanael eher ein irritierter Salonlöwe als ein gebrochener Knecht seiner Visionen, Hartmut Scheyhing und Andreas Peer bemühen sich in verschiedenen Rollen sehr, möglichst tückisch zu wirken. Besonders erstaunlich ist bei all dem jedoch, dass Grauen und Grusel des Stückes am Ende doch irgendwie funktionieren: E.T.A Hoffmanns Literatur ist sehr, sehr stark.
Der Sandmann (Im Bann der tausend Augen)
von Friederike Köpf nach E.T.A. Hoffmann
mit Musik von Hartmut Scheyhing und Lys Jane
Regie: Susanne Schulz, musikalische Leitung: Hartmut Scheyhing, Bühne und Kostüme: Jan Hax Halama, Dramaturgie: Sophie Oldenstein.
Mit: Sergej Czepurnyi, Lys Jane, Hartmut Scheyhing, Andreas Peer, Gerald Leiß, Anna Mariani, Claudia Dölker, Nina Buchmann.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause
www.theater-ansbach.de
Ein "Sprechstück mit balladenhaft anrührenden Pop-Kommentaren", so beschreibt Thomas Wirth in der Fränkischen Landeszeitung (22.10.2018) den Abend. Die Idee, Schwarzromatik mit Thriller-Grusel zu kreuzen, habe Potential. Allerdings nutzen es Schulz und Köpf nur vorsichtig, entwickeln keine spannende Handlung. Die Inszenierung habe "etwas gebremst Etüdenhaftes, Technisch-Distanziertes" – typisch für die Regisseurin. Die Pointe sei die Musik, in der E.T.A. Hoffmanns Vieldeutigkeit aufgehoben sei.
"Ein mystisches Schauertheater mit schwarzem Humor, aber für meine Begriffe perfekt auf die Bühne gebracht: ergreifend, ausdrucksstark und perfekte schauspielerische Leistung." So empfand Andreas Fischer vom Radio 8 (22.10.2108) diesen E.T.A.-Hoffmann-Abend in Ansbach. "Es ist ein modernes Pop-Musiktheater". Der Kritiker vergibt "fünf von fünf Radio-8-Premierensternen".
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Wie sieht es im Innersten eines als Kind traumatisierten jungen Mannes aus? Nicht bunte, opulente Bilder beflügeln seine Seele, sondern tiefgründige Dunkelheit. Das Stück gehört zur Literatur der „Schwarzen Romantik“ mit ihrer Faszination für die finsteren Seiten des menschlichen Daseins. Das wird im Bühnenbild in künstlerisch hervorragender Weise umgesetzt. Es beeindruckt durch Klarheit und Eleganz, tritt dezent in den Hintergrund und lenkt nicht ab von den Gefühlen, die das Stück in uns weckt. Die Schauspieler tragen das beklemmende Gefühl perfekt zu den Zuschauern, die sich – so wie ich - gefangen im Kopf und der Seele Nathanaels fühlen. Die sphärischen Klänge der Glasharfe und eigens komponierte Lieder, gesungen von einer Ansbacher Künstlerin, verstärken den Eindruck. Die Regisseurin Susanne Schulz bedient sich fast aller Sinne des Zuschauers und berührt zutiefst. Sicherlich leben wir in Zeiten vorgefertigter Berieselung. Doch genau dort geht die Inszenierung andere Wege. Sie lässt dem Zuschauer Raum für eigene kreative Gedanken. Sie regt dazu an, dass in der Kritik als negativ bewertete "Gerippe" zudem mit eigenen Gefühlen zu füllen. Alles fügt sich zusammen zu einem harmonischen Gesamtkonzept. Ich durfte einer sehr eindrucksvollen und emotional „nachhaltigen“ Aufführung im Ansbacher Theater beiwohnen.
Ein wunderschöner Abend mit viel Raum für eigene Gedanken, umgesetzt durch ein super Team um Susanne Schulz und Friederike Köpf
Gab es doch in der Fränkischen Landeszeitung vom 22.10. und in den Nürnberger Nachrichten vom 24.10. ebenfalls Kritiken, die der in der Nachtkritik durchaus ähnlich sind.
Einziger Lichtblick: Lys Jane (FLZ vom 22.10.: "Es ist ihr Abend").