Eines langen Tages Reise in die Nacht - Eugene O'Neills Familienabgründe von Karin Henkel am Schauspielhaus Hamburg in Szene gesetzt
Nebelhörner im Sommerhaus
von Katrin Ullmann
Hamburg, 14. Oktober 2016. Es gibt diese Premieren, auf die freut man sich. Eine Tragödie über eine Familie, die sich kaputtmacht, "Eines langen Tages Reise in die Nacht" von Eugene O'Neill. Ein großartiger Text über menschliche Abgründe, Süchte, Rausch und Selbstbetrug. Inszeniert von Karin Henkel. An ihren John Gabriel Borkman denkt man, der eingeladen war zum Theatertreffen 2015. Düster. Morbide war diese Inszenierung und auf eine ganz eigene Art und Weise auch voller Komik.
Jetzt inszeniert Henkel am Schauspielhaus also wieder ein Familiendrama. Wieder ist alles verloren. Wieder liegen die Ursachen in der Vergangenheit. Wieder ist die Konstellation verfahren, die Situation unausweichlich. Wieder ist Lina Beckmann in der weiblichen Hauptrolle zu sehen. Neben ihr Charly Hübner als cholerischer James Tyrone, Felix Knopp als perfider Bruder Jamie, Christoph Luser als Edmund (schwerkrank und mit herrlich konsequenten Hängeschultern) und Hubert Wild als Hausangstellte Cathleen. Es ist eine Familie der Süchtigen, die Männer sind Alkoholiker, die Mutter ist Morphinistin. Ihr Zusammensein ist die Hölle, ein Entkommen unmöglich.
Naherholung mit Hitchcockflair
Unübersehbar zeichnet der US-amerikanische Dramatiker in seinem Text von 1941 sein eigenes Elternhaus nach. Und nicht nur sein Elternhaus, letztlich fielen Generationen und zahlreiche Verwandschaften O'Neills – wie Felix Knopp es trocken zusammenfasst – wahlweise dem Alkoholismus, der Schwermut, der Tuberkulose oder dem Morphium zum Opfer.
Karin Henkel setzt, vermutlich um die Ausweglosigkeit der Situation noch spürbarer zu machen, die Zuschauer mit auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses. Zum (kleinen) Teil mitten hinein ins Wohnzimmer der Familie Tyrone, zum (größeren) Teil auf eine Tribüne mit Ausblick auf den sich hinter dem Bühnenbild öffnenden, eigentlichen Zuschauerraum.
Thilo Reuther hat Tyrones "Sommerhaus" gebaut. Es ist ein Haus, das eher an Hitchcockfilme als an erfrischende Naherholung erinnert. Das schlichte Mobiliar ist in die Jahre gekommen, eine Empore mit Klavier und eine gediegene Hausbar befinden sich links, ein gigantisches Rohr (vermutlich ein ausgewachsenes Nebelhorn) und ein Schminktisch rechts des überdimensionalen Wohnzimmertischs. Im Raum verteilt stehen zahlreiche piefige Lampen. In einem abseitig gelegenen Guckkasten befindet sich das Kinderzimmer mitsamt Blümchengardine und fast bis in den Schnürboden hinauf führt eine lange, lange Treppe. Diese wird auschließlich von Lina Beckmann bespielt, etwa wenn sie auf der Suche ist nach ihrer Vergangenheit und ihrem kostspieligen Hochzeitskleid. Oder wenn sie – in morphiumsüchtiger Verzweiflung – droht, sich von dort oben in den Tod zu stürzen.
Menschen mit Hass und Misstrauen
Es gibt genug zu sehen und zu entdecken an diesem Abend. Sei es im klug komponierten Bühnenbild, sei es mit einem Blick in den gigantischen Schnürboden oder in den in Rot und Gold schimmernden Zuschauerraum des Schauspielhauses. Ganz abgesehen natürlich von den Schauspielern, die sich allesamt einen Wolf – oder vielleicht eher – einen Whiskey spielen. Die Voraussetzungen für einen gelungenen Abend sind eigentlich absolut gegeben. Und doch lässt einen die Inszenierung seltsam kalt.
Da werden Sätze wie "Wir können nicht vergessen" und "Ich will mich nicht erinnern" mantra-artig bis ins ins Unzählbare wiederholt, da wird in regelmäßigen Abständen voller Hass geschrien und überdeutlich Misstrauen verbreitet, da findet ein grässlicher Verfolgungswahn in den Augen von Lina Beckmann ein unruhiges Zuhause. Alle flippen mal aus an diesem Abend (natürlich auf schauspielerisch höchstem Niveau), nur Hubert Wild als schräge Haushälterin drückt lieber seine Variation von Klaus Nomis "Total Eclipse" in die Klaviertasten.
Flucht in den Schmerz
Dass irgendwo am Ende dieses "Langen Tages Reise in die Nacht" ein bodenloser Abgrund wartet, ist von Anfang an klar. Henkel hat jedoch das Bedürfnis, möglichst viele psychologische Details auszuerzählen. So als misstraue sie der Grundatmosphäre des Stücks. Was entsteht ist naturalistisches, ausuferndes Schmerztheater. Drei Stunden lang. Verstärkt von einem wummerndem Nebelhorn, schweren Nebelschwaden, einer sinnfreien Videoeinspielung, die Lina Beckmanns aussichtslose Flucht aus dem Theater wiedergibt und eine auf Darstellerseite immer kleinteiliger werdende Verzweiflungsperformance. Es gibt Abende, auf die freut man sich, aber obwohl zunächst alles so verdammt richtig erscheint, sind sie am Ende enttäuschend schal.
Eines langen Tages Reise in die Nacht
von Eugen O'Neill
Deutsch von Ursula und Oscar Fritz Schuh
Regie: Karin Henkel, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Arvild J. Baud, Dramaturgie: Rita Thiele.
Mit: Lina Beckmann, Charly Hübner, Felix Knopp, Christoph Luser, Hubert Wild.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.schauspielhaus.de
"Deutschlands erfolgreichster Regisseurin steht ihre Virtuosität (...) im Weg", findet Anke Dürr auf Spiegel Online (15.10.2016). Immerhin gelinge es ihr "im düster-morbiden Bühnenbild von Thilo Reuther auch streckenweise," die Hölle, die die anderen für einen Menschen darstellen, "atmosphärisch spürbar zu machen." Allerdings zerstöre Henkel die Nähe zu den Figuren immer wieder durch "Tricks, die einem die Theatersituation bewusst machen." Ein typisches Henkel-Stilmittel, das in diesem Fall allerdings nicht aufgehe, so Dürr.
Eine zweite Ebene liege unter dem Abend, sie führe in das Innere von Marys Kopf, tief hinein in ihre Morphiumsucht, so Dorothea Marcus auf Deutschlandradio (16.10.2016). Immer stärker werde das Delirium der sich auflösenden Familie, "zunehmend lösen sich auch Sprache und Form des Abends auf". Für Lina Beckmann sei das eine Paraderolle. "Ein extremer Abend, der die Selbstauflösung einer Familie von innen heraus zeigt - und vom künftigen Weltuntergang eines jeden erzählt."
Katja Weise schreibt auf ndr.de (15.10.2016): Lina Beckmann spiele die zerrüttete Frau mit "erschütternder Energie und Fragilität". Das Publikum sei begeistert. Die "knapp drei Stunden im Wohnzimmer der Tyrones" würden nicht lang. Die Regisseurin habe die Schauspieler ihre Figuren "spürbar entwickeln lassen und führt sie doch ganz genau in die Suchtspirale".
Maike Schiller schreibt auf der Website des Hamburger Abendblattes (17.10.2016): Mit den Zuschauern auf der Bühne baue Karin Henkel eine "aufdringliche, schonungslose Grundsituation", um diese "bis ins Letzte verkorkste Familiengeschichte" zu erzählen. Sie schaffe damit "Intimität und totale Ausgestelltheit zugleich". Der Abend verlange den Darstellern "einiges an Wahrhaftigkeit" ab. Das "Unentrinnbare, das Gefangensein im Schmerz und in der eigenen Sucht, die Sprunghaftigkeit der Stimmungen", spiele vor allem Lina Beckmann mit "nahezu kindlicher Aufrichtigkeit in der ihr eigenen Körperlichkeit und in bisweilen kaum zu ertragender Intensität". Vor allem im zweiten Teil zerfasere der Abend "ein wenig", er habe aber "neben dem meist starken Ensemble" als "zusätzlichen Star" den leeren Zuschauerraum des prachtvollen Schauspielhauses zu bieten. Einer der "wirklich allerschönsten Ausblicke, die man in Hamburg haben kann".
"Wohin soll sich das Junkietum der Mary Cavan Tyrone denn noch steigern, wenn sie bereits in den ersten Minuten demonstrative Entzugserscheinungen, maßlose Schreckhaftigkeit und viele unnatürliche Bewegungen vorstellt", fragt Till Briegleb von der SZ (20.10.2016). Briegleb attestiert der Inszenierung eine "große Effektsucht". In Karin Henkels Regie verwandelt sich O’Neills Kammerspiel in ein "Shoot-out der Bühnenmittel".
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nachtkritikvorschau
Entweder werde ich als Zuschauer unterschätzt, oder Frau Henkel möchte nur ja nicht verabsäumen, ihr Erkenntnisse und Analysen des Stoffes auszuweisen.
Aber wozu?
Wozu jede subversive, mich überraschende Erzählweise links liegen zu lassen, nur um als Einserschülerin "originell" zu sein und alles platt auszuwalzen.
Das Düstere, Verzweifelte, kommt doch sehr selten einfach düster und verzweifelt daher.
So Deutsch, mein Gott!
>>In manche Stücke sollte sich ein Schauspieler lieber hineinschleichen und so tun, als sei die Welt in Ordnung - statt hineinzutorkeln und gleich alle Konflikte anzureißen. Das gilt vor allem für die Suchtkrankenstücke von Eugene O'Neill, insbesondere für "Eines langen Tages Reise in die Nacht". Lässt man die drei Trinker und die Morphinistin dieser autobiografischen Familienzerstörung schon in der Aufwärmrunde schreien, jammern und mit der Faust auf den Tresen schlagen, dann ist die Überraschung gleich hin, die ganze Dramatik. Wohin soll sich das Junkietum der Mary Cavan Tyrone denn noch steigern, wenn sie bereits in den ersten Minuten demonstrative Entzugserscheinungen, maßlose Schreckhaftigkeit und viele unnatürliche Bewegungen vorstellt? Zumal, wenn man diesen Übungen am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg deutlich ansieht, dass sie nicht dem Leben im Bahnhofsviertel vor der Tür abgeschaut sind, sondern dem effektgeschulten Gemüt einer Schauspielerin, die viele großartige Rollen in Hamburg und Köln hingelegt hat. ...