Der große Wind der Zeit - Schauspiel Stuttgart
Vielmal Leben, rissig und vorläufig
25. Februar 2024. In seinem Roman über Israel, Palästina und den Nahost-Konflikt führt Joshua Sobol seine Figuren durch hundert Jahre Geschichte. Ein Generationendrama, das nach der Möglichkeit von Liebe zwischen Feinden fragt. Wie inszeniert Stephan Kimmig diesen aktuellen Stoff?
Von Steffen Becker
25. Februar 2024. Dies ist eine Schlüsselszene in Joshua Sobols Generationen überspannenden Epos über Israel und Palästina, "Der große Wind der Zeit": Die frisch aus der Armee entlassene Verhörspezialistin Libby und ihr letztes Verhör-Gegenüber Adlib, ein Palästinenser mit britischem Pass, der über die Geschichte des Zionismus promoviert, erzählen sich, wie in ihren Familien über den Nahost-Konflikt gesprochen wurde. Wie sowohl in israelischen als auch in palästinensischen Familien erbittert über einen Friedensprozess oder die beste Strategie gegen die Gegner gestritten wird, bis selbst ein inter-familiärer Waffenstillstand kaum mehr möglich scheint.
Liebe zwischen Feinden?
Streit-Szenen ähnlich wie in Sobols Roman, aber über die Frage, auf welcher Seite man im Gaza-Konflikt stehe, will man in Stuttgart offenbar vermeiden. Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 bleibt in der Inszenierung von Stephan Kimmig ausgeklammert. Die Frage, wie Liebe zwischen Feinden möglich ist, wird in seiner Adaption über die Zeitspanne von den 1920ern nur bis zur Gegenwart des Romans 2021 erzählt.
Vor der Bühnenpremiere war im Magazin des Schauspielhauses Stuttgartd der Historiker Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, von einer Journalistin über den aktuellen Zustand der israelischen Gesellschaft befragt worden. Den 7. Oktober bezeichnete er als eine Zäsur – als einen Tag, der das Leben der Menschen in ein Davor und Danach einteile. "Die Gräueltaten der Hamas und die Gegenschläge der israelischen Armee werden die Gräben und den Hass immer weiter vertiefen. Wir entfernen uns also von Sobols Vision", so Mendel. Liebe zwischen Feinden: undenkbar. Diese (Neu-)Einschätzung der aktuellen Lage reflektiert die Inszenierung nicht.
Leben als Rohbau
Libby nimmt sich nach dem Ende ihres Militärdienstes eine Auszeit in dem Kibbuz, in dem ihr Großvater Uri lebt. Dort findet sie das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva und taucht lesend in deren Leben ein. Eva hatte Österreich verlassen, um im britischen Mandatsgebiet Palästina den Kibbuz zu gründen, in dem ihr Sohn, Libbys Großvater, noch immer lebt. Sie liebte einen jemenitischen Jungen und brachte das gemeinsame Kind auf die Welt, um dann im Deutschland ihren Traum zu leben, Tänzerin zu werden. Bis sie fliehen muss, nach Palästina zurückkehrt und den jüdischen Kampfverband Palmach mit aufbaut.
Um die beiden Frauen gruppiert Joshua Sobol, der in Deutschland vor allem als Dramatiker bekannt ist und in Tel Aviv ein Theater geleitet hat, Dutzende von Figuren. Regisseur Stephan Kimmig konzentriert seine Fassung stark auf den inneren Dialog Libbys mit Eva, durch die Zeit und die von Sobol aufgefächerte Geschichte Israels hindurch. Die Bühne von Katja Haß bietet dafür den perfekten Rahmen, egal ob eine Szene 1933 in Berlin oder 2001 im Kibbuz spielt: Ein drehbarer Rohbau aus unverputztem Beton symbolisiert die rissige Vorläufigkeit der Existenzen als Kontinuum über alle Jahrzehnte hinweg.
Die Protagonisten bewegen sich so selbstverständlich durch das Provisorium, als ob sie genau wüssten, dass sich das Verputzen nicht lohnt. Kann ja jeden Moment alles anders sein in einer Umgebung der Gewalt, welche der brutalistische Look der Bühne ebenfalls spiegelt.
Konfrontation der Generationen
Weniger klar erschließt sich die Bedeutung des zentralen Satzes in Evas Tagebuch – "Libby ist wie ich". Eva ist eine trotz aller Krisen selbstbestimmt lebende Frau. Paula Skorupa spielt sie auch genauso, raumgreifend, lautstark, dominant. Libby hingegen trifft zu Beginn eine Bauchentscheidung – sie verlässt die Armee, weil sie genug hat von Gewalt und Repressalien – und sucht danach Orientierung. Camille Dombrowsky spielt sie als geschockte und nervöse junge Frau, die sich der/den Geschichte/n ausgeliefert fühlt. In der Stuttgarter Regie sind die Figuren Eva und Libby auf gegensätzliche Art miteinander verbunden. Die Achse des Stücks verschiebt sich zur Aussage, dass die junge Generation verstrickt ist im Erbe ihrer Vormütter.
Eva war eine Scharfschützin im Unabhängigkeitskrieg, Libby hingegen weiß nicht, auf welches Ziel sie ihre Frustration mit dem "System" richten soll. Diese Konfrontation der Generationen wird in Stuttgart ausgespielt. Für die Nebenrollen bleibt wenig Zeit, sie sind durchgehend nur Stichwortgeber. Auch die Liebesgeschichten – jede Generation hat ihre Gräben überschreitende Romanze – werden nur angedeutet. Von 100 Jahren Geschichte und 500 Seiten Buch passt eben nur ein Bruchteil in 2,5 Stunden Theater. Aus dieser Sicht verständlich, dass die Zäsur des 7. Oktober keinen Platz gefunden hat. Trotzdem schade: Das Schauspiel Stuttgart verpasst die Gelegenheit auf im wahrsten Sinne des Wortes zeitgemäßes Theater.
Der große Wind der Zeit
von Joshua Sobol
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Max Braun, Choreografie: Michèle Seydoux, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Camille Dombrowsky, Paula Skorupa, Felix Strobel, Sebastian Röhrle, Therese Dörr, David Müller, Gábor Biedermann, Tim Bülow, Teresa Annina Korfmacher.
Premiere am 24. Februar 2024
Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten, eine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
Viele Figuren blieben in Sobols eigener Dramatisierung auf der Strecke, so Nicole Golombek in der Stuttgarter Zeitung (26.2.2024), die Handlung bleibe aber stets nachvollziehbar. "In Kimmigs Inszenierung aber, die in Anwesenheit des Autors stattfand, findet viel Betonmauerschau statt, darunter leidet der Spielfluss. Die Regie findet wenige Bilder, um die Handlung ins Dramatische zu überführen." Auch das Ende überzeuge nicht: "Alle Parteien mögen doch jetzt bitte mal alle Politik, allen Horror vergessen und sich vertragen? So einfach könnte es sich nicht mal das Kinderregietheater machen."
Dass die Inszenierung von Stephan Kimmig sich nicht auf den 7. Oktober einlasse, "erscheint klug, sind das Massaker der Hamas und seine Folgen doch ohnehin allgegenwärtig", findet Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (26.2.2024). Das Problem des Abends aber sei die Dramaturgie des Sobol-Textes, die sich auf der Bühne nicht entfalten könne. "Markerschütternd ist dieser Abend tatsächlich allein vor dem Hintergrund einer Realität, die den schlimmsten Befürchtungen im Text recht gibt. Und die jene dadurch nicht dümmer gewordene Utopie, dass man miteinander ebenso gut zurechtkommen könnte, auf eine sehr ferne Zukunft verschoben hat."
Sobol habe seinen Roman, "ein differenziertes Stück Geschichtsunterricht und ein Aufruf, die Kommunikation mit der 'anderen Seite' nie abreißen zu lassen", selbst dramatisiert und dabei auf die drei Hauptfiguren fokussiert, schreibt Sabine Leucht in der taz (26.2.2024). Dass die Darstellerin der Libby so aufgekratzt spiele, womöglich "in dem Dilemma, eine Lesende zu inszenieren, die sich mit einer Schreibenden identifiziert, während sie selbst kaum etwas zu tun hat". Kimming verzichte in seiner Inszenierung auf Props und Körperlichkeit.
Ein beachtlicher Coup des Stuttgarter Intendanten Burkhard C. Kosminski sei es, dass der seit "Ghetto" (1984) weltweit gespielte Joshua Sobol sich mit 84 Jahren nochmal der Bühne zuwendet, so Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (26.2.2024). Kimmig inszeniere mit ruhiger Hand, erzähle Sobols Jahrhundertepos eher leise, nachdenklich, unaufgeregt. "Verzichtet auf illustrierende Klischees. Wie der Autor lässt er den Geschichten Zeit und viel Nachhall." Bezüge zu heute würden weder theatralisch verdoppelt noch besserwisserisch erklärt. "Dass dennoch eine innere Spannung bleibt, ist auch ein Verdienst des Ensembles."
"Sobols Geschichtsstunde über den mehr als 100 Jahre alten Konflikt ist komplex und die Botschaft klar: Die Kommunikation mit der anderen Seite darf nicht abreißen", schreibt Claudia Ihlefeld in der Heilbronner Stimme (26.2.2024). "Wenn Regisseur Kimmig nach zweieinhalb Stunden mit Pause die Schauspieler an den Bühnenrand treten und in Richtung Parkett die Hände ausstrecken lässt, ist das pathetisch, aber vielleicht auch das einzig seriöse Angebot."
Trotz eine schwächeren zweiten Teils und und der pathetischen Schlussgeste sei "es insgesamt ein kraftvoller Abend, dem es gelingt, beispielhaft Schlaglichter auf die Geschichte Deutschlands, Israels und Palästinas zu werfen, auf der Bühne nicht zu viel und nicht zu wenig zu zeigen, und dabei immer wieder zu berühren", so Grete Götze im der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.3.2024). Das Stück entfalte eine eine unmittelbare Dringlichkeit.
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Nun, das stimmt nicht. Betritt man das Foyer blendet es einen gelb blau bzw. blau gelb. Da ist Haltung angesagt. Ein Theaterstück, das in einer bestimmten Zeit spielt; wer kommt auf die Idee, es in seinem staatstragenden Sinne zu verändern? Zeitgemäßer wäre es dadurch nicht, eher Aktienkurs-"gerechter", wenn man denn daran beteiligt wäre. Sicher könnte man das eine oder andere monieren, so der saloppe Umgang mit Brecht u.a.
Aber es ist ein seltenes Beispiel, wie man aus einem dicken Buch ein interessantes Theaterstück macht, es in eine theatergemäße Handlung bringt, ohne dass die SchauspielerInnen auf der Bühne herumkaspern müssen. Nur einmal sehr passend beim Tanz. Und kein Video, und die Musik passend, auch das puristische Bühnenbild. Schauspielkunst und eine Geschichte, was will man mehr? (...)
PS: Ist die letzte Geste Kitsch oder eine echte humane Haltung oder veraltet? Mir hat sie sehr gefallen.
Übrigens i.G. zum Verhalten eines früheren Oberbürgermeisters vor der Garderobe. Diese Leute müssen nicht in der Schlange stehen. Wenn man so hoch hinaus will und kam, und wie ist das wohl noch höher(?), eignet man sich Verhaltensweisen an, die man auch im Kulturbereich nicht mehr ablegen kann. Kultur wie das Leben und umgekehrt. Mehr leider nicht, außer in dieser letzten Geste.
(Anm. Red. Eine übers Ziel hinausschießende Polemik ad personam wurde aus dem Kommentar enfernt.)
Das Stuttgarter Schauspielhaus vergreist inhaltlich und formal.
Ich war drei Mal in Faust 1, zweimal in Ehen in Phillipsburg, weil es toll war.
Aber das Stück wollte zuviel, die Sprache war dramaturgisch nicht gut umgesetzt (merken das die Schauspieler nicht?).
Es war Frontalunterricht mit Fremdschämen.
Nicht mein Theater.
Guten Tag!
Leider kann ich Ihnen wahrscheinlich nicht helfen, da ich betreffende Inszenierungen nicht gesehen habe, habe aber meinerseits eine Frage: was meinen Sie damit, die "Sprache war dramaturgisch nicht gut umgesetzt (merken das die Schauspieler nicht?"?