Bloß nicht anecken!

25. September 2022. Ein Umweltskandal, das Absinken der Zeitungsbranche in die intellektuelle Bedeutungslosigkeit: Klingt nach tagesaktuellem Gegenwartsdrama? Ist aber Henrik Ibsens 140 Jahre alter "Volksfeind"! Der Regisseur Burkhard C. Kosminski interessiert sich allerdings für einen anderen Aspekt.

Von Verena Großkreutz

Henrik Ibsens "Volksfeind" in der Regie von Burkhard C. Kosminski am Schauspiel Stuttgart © Toni Suter

25. September 2022. Alle Energie erloschen: Tomas Stockmann, der vermeintliche "Volksfeind", sieht erbärmlich aus mit seinem Nasenverband. Derweil filmt Hovstad, der bauernschlaue, doch geistig und körperlich träge Chefredakteur des "Volksboten", mit dem Handy mit: Viel nachgedacht habe er, lässt Tomas Stockmann, auf einem Stuhl stehend, mit schwacher Stimme wie unter Zwang verlauten, er sehe den Zusammenhang jetzt ganz klar, stockt: "Ich …" – Blackout.

Aus und vorbei. Ende offen, aber hoffnungslos: Stockmann ist ein gebrochener Mann. Matthias Leja (mit Blondhaarperücke) spielt ihn mitreißend: zu Beginn noch als euphorisch befeuerten Freigeist, selbstsicher, arrogant, eitel. Dann nagt die Zermürbungskultur sein Ego nach und nach weg. Stockmann wird schwach.

Aufgehetzte Wutbürger

In Henrik Ibsens Drama von 1882 steht's aber anders, als es uns Burkhard C. Kosminski in seiner Stuttgarter Inszenierung vom "Volksfeind" weismachen will: Da rappelt sich Dr. Stockmann am Ende wieder auf, nachdem ihm Wutbürger – aufgehetzt durch den gut vernetzten machthabenden Bürgermeister, seinen Bruder Peter – sein Heim zerdeppert haben. Im heimatlichen Kurort hatte Tomas Stockmann einen Umweltskandal aufgedeckt: die Verseuchung des Heilwassers durch vergiftete Abwässer. Und will nun damit über den "Volksboten" an die Öffentlichkeit. Aber das wird durch Intrigen seines Bruders vereitelt, die am Ende die gesamte Bürgerschaft gegen ihn aufbringen. Schließlich ist das Kurbad, das allgemeinen Wohlstand und viele Kurgäste brachte, Wirtschaftsfaktor Nummer 1 der Region.

Ein Volksfeindvon Henrik IbsenInszenierung Burkhard C. Kosminski Inszenierung: Burkhard C. KosminskiBühne: Florian EttiKostüme: Ute LindenbergMusik: Hans PlatzgumerLicht: Rüdiger BenzDramaturgie: Gwendolyne Melchinger Auf dem BildMatthias Leja (Tomas Stockmann), Sven Prietz (Peter Stockmann)Im Hintergrund: Klaus Rodewald (Hovstad), Marco Massafra (Aslaksen) Foto: Toni SuterKabale ohne Liebe: Die Brüder Tomas und Peter Stockmann (Matthias Leja und Sven Prietz) kämpfen, dahinter sind Hovstad (Klaus Rodewald) und Aslaksen (Marco Massafra) auf dem Sprung © Toni Suter

Bei Ibsen hat Tomas Stockmann Unterstützer:innen: Petra, seine Tochter, eine emanzipierte, politisch denkende junge Frau, außerdem den selbstlosen Kapitän Horster, der Stockmann und seiner Familie Kost und Logis anbietet, nachdem sich die ganze Welt gegen den nunmehr arbeits- und wohnungslosen Quasi-Umweltaktivisten verschworen hat. Aber leider hat Kosminski den fatalen Fehler begangen, diese dramaturgisch so wichtigen Rollen einfach zu streichen. Stattdessen bricht er das Stück auf den Bruderzwist herunter, der sich hier in Gestalt kindischer Prügeleien und Neckereien ("Äh, Tomas, ich will mein Sakko wiederhaben!") oft ins Alberne verdreht, statt psychologisch ausgeleuchtet zu werden.

Ergo ist Tomas Stockmann in Stuttgart allein auf weiter Flur. Ein kiffender Freigeist, der seine Frau zunächst noch mit Hovstad teilt, in einer wenig glaubwürdigen Ménage-à-trois. Tomas' Gattin (Katharina Hauter) bleibt Spielball, halbtags jobbend, Baby versorgend, leicht verwirrbar, auch oft bekifft.

Abflachende Spannungskurve

Ansonsten erlebt Tomas nur Gegenwind, was die Spannungskurve von Anfang an abflacht: durch den Bruder – einen Kamillentee trinkenden Anzugträger und gut vernetzten Strippenzieher, wie bei Ibsen Single – und durch jene, die aus kapitalistischen Gründen ihre Fähnchen nach dem Wind drehen: Hovstad eben – in seiner phlegmatischen und heuchlerischen Anpassung an die Machthabenden trefflich gespielt von Klaus Rodewald – und Aslaksen (Marco Massafra), den Kosminski kurzerhand zum Zeitungsverleger befördert hat.

Was könnte man von Ibsens "Volksfeind" alles ins Heute spiegeln! Vom Absinken der Zeitungsbranche in die intellektuelle Bedeutungslosigkeit über den Wassermangel durch Dürren bis hin zu Fridays for Future oder Carola Rackete.

Ein Volksfeindvon Henrik IbsenInszenierung Burkhard C. Kosminski Inszenierung: Burkhard C. KosminskiBühne: Florian EttiKostüme: Ute LindenbergMusik: Hans PlatzgumerLicht: Rüdiger BenzDramaturgie: Gwendolyne Melchinger Auf dem BildSven Prietz (Peter Stockmann), Matthias Leja (Tomas Stockmann) Foto: Toni SuterWie immer minimalistisch: Florian Ettls Bühnenbild für Kosminskis "Volksfeind"-Inszenierung, hier mit Sven Prietz als Peter und Matthias Leja als Tomas Stockmann © Toni Suter

So aber bleibt nicht viel übrig von der Sprengkraft des Stücks, das Kosminski gründlich entpolitisiert hat: Bloß kein Risiko eingehen, bloß nicht konkret werden und dadurch anecken. Ein Abend quälender Belanglosigkeit halt, wie so viele andere unter seiner Intendanz.

Die Kostüme verweisen zwar aufs Heute, aber das Stück bleibt unverortet. Das Bühnenbild, das – wie in Kosminski-Inszenierungen üblich – von Florian Etti stammt, ist wie immer minimalistisch und im Grunde austauschbar: die blaue Tapete mit Rautenmuster oder Planen mit dicken schwarzen Lettern drauf, der weiße Tisch und die Stühle, die Bodenkissenwurst mit exotischem Muster. Und auch das entspricht Kosminskis eintöniger Ästhetik: der immer gleiche behäbige, unnötige Einsatz der Drehbühne und das ständige sinnfreie Switchen der Schauspieler:innen zwischen normalem Reden und Mikroport-Verstärkung.

Kundgebung ans anwesende Publikum

Weil Kosminski das Stück nicht verortet und zudem keine andere Idee hat, als die Kundgebung, die Tomas Stockmann vor großer Volksmenge aller Schichten geplant hat, ans aktuell anwesende Publikum zu richten, bleibt auch hier ein Vakuum. Warum sollte sich das Stuttgarter Publikum von Stockmanns Beschimpfung angesprochen fühlen? Es wird in der Inszenierung ja sonst keine Verbindung hergestellt zu Stuttgart. Der eine oder die andere lacht leise in sich hinein über Stockmanns moralisch und ethisch befeuerte Ausfälle wie: Es sei "nie und nimmer richtig, dass die Dummen über die Klugen herrschen". Ansonsten bleibt das Publikum stumm. Null Reaktion. Wer sind die dann, die auf der Bühne anschließend Stockmanns Haus in Flammen setzen?

Weil Kosminski die ganze Geschichte auf den Bruderzwist fokussiert und damit den eigentlich brennend aktuellen Fragen des Stücks aus dem Weg geht, wirkt die ganze Story unglaubwürdig. Wäre es heute wirklich noch möglich, dass sich die "öffentliche Meinung" geschlossen gegen die Aufdeckung eines Umwelt-Skandals stellt? Wohl kaum.

Ein Volksfeind
Von Henrik Ibsen
Inszenierung: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme:, Musik: Hans Platzgumer, Licht: Rüdiger Benz, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Boris Burgstaller, Katharina Hauter, Matthias Leja, Marco Massafra, Sven Prietz, Klaus Rodewald.
Premiere am 24. September 2022
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

Kritikenrundschau

Eine "schlichte Moralpredigt" mache Burkhard C. Kosminski aus Ibsens Stück, findet Nicole Golombek von der Stuttgarter Zeitung (26.9.22, €). "Wo der Autor eine ambivalente Charakterstudie kreiert, fegt der Regisseur jeden Zweifel an der Integrität des Helden von der Bühne", urteilt sie. Die Botschaft komme klar herüber, aber dabei gehe "auch die Vielschichtigkeit, die Kunst, verloren".

Es gebe in der jüngeren Theatergeschichte "viele Versuche, das Stück auf 'woke' zu trimmen", schreibt Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (26.9., €). Burkhard C. Kosminskis Regie schaffe es hingegen, "allen Figuren eine gewisse Ambivalenz zu verleihen, ohne die Moralfronten ganz zu verwischen". Das Fazit des Kritikers: "Kein wohlfeiles Schwarz-Weiß, keine Aufpimp-Effekte." Sondern: "Karg und klug inszeniert."

Für Kritikerin Eva Marburg ist an diesem Abend klar: "Die Handlung wird so vorhersehbar, weil auch sonst alles nur auf das Allgemeine verweist". In ihrer Besprechung auf SWR2 (26.9.2022) findet sie auch: "Die Figuren sind exemplarisch angelegt und stehen wie Statthalter ihrer gesellschaftlichen Gruppe auf der Bühne herum." Dadurch entstehe eine Eindimensionalität, die eher an die bösewichtigen Intrigen einer Vorabendserie erinnere. "Beinahe fahrlässig" erscheine bei der Inszenierung, "dass sie in ihrer unkonkreten Allgemeinheit am Ende nicht mehr zeigt, als die banale, aber immerhin nicht ungefährliche Narration zu bedienen, dass Politik korrupt ist, dass die Medien dieser Politik hörig sind und dass diejenigen, die dagegen aufbegehren, mundtot gemacht werden".

"Was den Grad der Verkürzung, Straffung und Entschlackung betrifft, ist Burkhard C. Kosminskis Zugriff sehr viel radikaler und konsequenter als der seiner Kollegin Lily Sykes in Frankfurt", findet Cornelie Ueding im Deutschlandfunk (26.9.2022). Die Frankfurter Inszenierung verliere sich in einem "buntscheckigen Tohuwabohu" und "clownesken Einlagen mit mit Wassergespritze". Das wäre laut der Kritikerin "nicht weiter schlimm", würden diese Slapstick-Einlagen nicht völlig vom "knallharten Kern" des prognostischen Stückes wegführen, meint Ueding. In Stuttgart gehe es sehr viel härter zur Sache. Dem Zuschauer gehe hier am Ende "ein Licht auf".

 

Kommentare  
Ein Volksfeind, Stuttgart: Zutreffend
leider muss ich frau grosskreutz zustimmen- belanglose regie und immer die selbe sauce (der weisse tisch, die mikroportierung der spieler etc)
warum wurde kosminski verlaengert in stuttgart? weil er niemandem zu nahe tritt, genau wie in seiner regie? als zuschauer bleibt man unbeteiligt zurueck.
es bleibt langweilig in stuttgart und leider sehr akurate beschreibung der kritikerin, dass es so viele abende unter seiner intendanz sind.
Ein Volksfeind, Stuttgart: Zu schwach für heute?
Wer da war, wird Frau Großkreutz nicht widersprechen, schon gar nicht beim Lob für die Darsteller, und ihre Hinweise auf einige spezielle Lesarten sind hilfreich.
Beide verringern aber die größte Schwäche des Abends nicht:
er lässt zu keiner Zeit auch nur erahnen, warum das ein aufführenswertes oder irgendwie starkes Stück sein sollte.
Ist es vielleicht, wie mir gestern schien, schlicht zu schwach "für heute"?
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