Drei Schwestern - Barbara Frey zeigt am Zürcher Schauspielhaus Tschechows Ansichten eines verpassten Lebens
Die Kraft der Frustration
von Valeria Heintges
Zürich, 11. September 2014. Als Andrej Sergejewitsch Prosorow seine Natascha das erste Mal umarmt, da ahnt es jeder: Diese Frau wird ihm das Leben zur Hölle machen. Wie ein Bär legt er seinen Kopf an Hilke Altefrohnes Brust. Weil er Hilfe sucht. Und weil er einfach nicht höher hinaufreicht.
Auch seine drei Schwestern werden im Leben scheitern. Sauertopf-Olga verscheucht jeden Mann, Mascha hat sich komplett der Melancholie verschrieben und Irina, die Jüngste, ist von Anfang an innerlich komplett erstarrt. Forsch und die Lage völlig verkennend erklärt Olga Natascha: Dein Gürtel passt nicht zu deinem Kleid. Am Ende werden sie alle ergraut sein (Kostüme Bettina Munzer), auf dem Kopf und in der Kleidung. Nur Natascha ist bunt wie ein Paradiesvogel. Und sie wird zu Olga sagen: Dein Gürtel passt nicht zu deinem Kleid.
Barbara Frey hat zur Saisoneröffnung am Zürcher Schauspielhaus im Pfauen Tschechows "Drei Schwestern" mit einem beeindruckenden Ensemble auf die Bühne gebracht, das Sätze so im Munde kneten kann, dass sie hängen bleiben, als hätten sie Widerhaken. Frey ganz bei Tschechow – und vor der Pause bei seinem Begriff der Komödie. Beinahe klamaukig, sehr oft hellauf komisch sind diese Figuren, wie sie vom "Durst auf Arbeit" faseln oder von der "Utopie des schönen Lebens" oder zu Beginn vor dem Fernseher die russische Nationalhymne singen. Ihr "Nach Moskau, nach Moskau" ist vor allem ein Witz, sie glauben es selbst nicht, lügen sich aber mit Hingabe die Hucke voll.
In der Melancholiesuppe
Mit ebensolcher Hingabe machen sie dieses "verdammte, unerträgliche Leben", wie Sylvie Rohrers Mascha sagt, noch komplizierter. Beinahe mit Händen zu greifen ist die Dialogunfähigkeits-Krankheit, die sie ins Grab bringen wird oder in die Erstarrung schon zu Lebzeiten. Immer sind alle müde und werden es nur noch mehr – am Ende fallen sie dem Dauerschlaf anheim. Ja, ihre Lebensumstände sind mies, der Bruder ein Versager, der in die Spielsucht abgleitet, ihnen die Zukunft verpfändet. Und dann zieht auch noch das Militär (und damit das Kontingent an potenziellen Lebenspartnern) ab. Doch ginge es ihnen allen so viel besser, hörten sie einander mal zu, anstatt egozentrisch in der Melancholiesuppe zu schwimmen. Das Unglück, es ist auch ein selbst verschuldetes.
Sie drehen sich im Kreis, wie die Zürcher Drehbühne, auf die Bettina Meyer ein gediegenes, an ein Hopper-Gemälde angelehntes Wohnzimmer gestellt hat. In der Rotation zeigt sich nicht nur die Terrasse durch die verdreckten Fenster, sondern auch das Schlafzimmer und der Wohnungseingang. Die Drehbühne dreht sich, wenn die Jahre vergehen und Natascha mit jedem neuen Akt ein neues Kind auf die Welt bringt. Nach der Pause werden wir nicht mehr ins Herrenzimmer geladen, sondern ins Schlafzimmer. Man glaubt es Markus Meyers Andrej gerne, dass er mal mit seinen Schwestern reden, von der Spielschuld und seiner missglückten Ehe erzählen möchte. Doch er spricht zu Mumien, zu unförmigen Wesen, zu denen sich Olga und Irina in ihren Betten gewickelt haben. Lange vorher schon hat Siggi Schwienteks Ferapont getrötet: Ich bin taub, ich höre nichts. Jetzt zeigen auch die Schwestern, wie aktiv sie die Kommunikation verweigern.
In Einsamkeit eingewickelt
Sie verwickeln sich alle aber auch ganz hinreißend in ihre Einsamkeit. Friederike Wagners Olga wird dabei immer verhärmter, Sylvie Rohrers Mascha verliert noch die Energie, um ihre spektakulären Yogaübungen zu absolvieren, mit denen sie doch vorher so wunderbar das pseudophilosophische Gerede der Herren Militärs ad absurdum geführt hat. Und Dagna Litzenberger Vinets Irina zeigt mit kniehohen Stiefeln und jugendlich verbohrt die Tschechowsche Variante der "Null Bock"-Generation. Christian Baumbach als Baron Tusenbach scharwenzelt steifbeinig um sie herum, man versteht gut, dass sie ihn nicht will, so mies wie er sich anpreist. Milan Zerzawys Soljony ist keine bessere Wahl, da kann er noch so oft behaupten, was für einen warmen Kern er habe, wenn er immer wieder besserwisserisch das Gegenteil beweist. Die Kraft seiner Frustration ist immer spürbar – und so überrascht es nicht, dass er wie angekündigt am Ende seinen Widersacher Tusenbach mit Freude im Duell tötet.
Johann Adam Oests Arzt Romanowitsch hat das alles kommen sehen, weil er ohnehin nur das Schlechte sieht und ganz wunderbar darüber lamentieren kann. Wenn der Lebenswille der Schwestern erwacht und sie ausgelassen zu Alizees Song "Moi Lolita" tanzen, ist er es, der ihnen den Strom abdreht. Ganz das Gegenteil Alexander Werschinin, der vor der depressiven Frau zuhause in Maschas Arme flieht. Stefan Kurt gibt ihn militärisch korrekt – und als die Pflicht ihn und das Bataillon in eine andere Stadt schickt, wird er, so ahnt man, dort eine andere Zerstreuung suchen.
Mascha bleibt zurück mit ihrem Mann Kulygin, den Nicolas Rosat als naiven "Gutmenschen, nicht Klugmenschen" spielt, wie er selbst höchst heutig in der Übersetzung von Werner Buhss sagt. Deutlich illustriert er auch, wie die Kenntnis liebevoller Sätze noch keinen liebevollen Ehemann macht: Wenn er immer wieder über Maschas Unterschenkel streicht und mantrahaft sein "ich bin zufrieden, ich bin zufrieden" flüstert, ist auch Barbara Frey in Zürich längst in der Tragödie angekommen.
Drei Schwestern
von Anton Tschechow
Deutsch von Werner Buhss
Regie: Barbara Frey, Bühne: Bettina Meyer, Kostüme: Bettina Munzer, Licht: Rainer Küng, Dramaturgie: Andreas Karlaganis, Regieassistenz: Barbara Falter, Bühnenbildassistenz: Regula Zuber, Kostümassistenz: Mitra Karimi, Souffleuse: Gabriele Seifert, Inspizienz: Aleksandar Sascha Dinevski.
Mit: Hilke Altefrohne, Christian Baumbach, Stefan Kurt, Dagna Litzenberger Vinet, Markus Meyer, Johann Adam Oest, Sylvie Rohrer, Nicolas Rosat, Siggi Schwientek, Friederike Wagner, Milian Zerzawy.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.schauspielhaus.ch
"Sehnsuchtslose. Ohne Weite. Ohne den Brummkreisel-Ton. Aber mit Tschechows Text, der hier wirkt wie schartige Zahnblätter, auf Nervensägen gespannt", holt Gerhard Stadelmaier aus in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.9.2014). "Es scheint, als hätten alle das Drama längst hinter sich, als wiederholten sie es nur, schlechtgelaunt, unerstaunt. Man sieht keinen gespannten Menschen zwischen Himmelskopf und Höllenfuß zu, sondern schlappe Abziehbildchen." Sie singen und rocken, tanzen, rennen, zicken und lassen Tschechows Text in der furchtbar grob-jargonesken Übersetzung von Werner Buhss à la "Leck mich" oder "Mascha ist heute nicht gut drauf" im Slapstick-Tempo aufeinander knallen. "Verstärkt wird dieses öde Glockenspiel durch die Männerwaschlappen, die hier komisch herumhängen."
Auch Barbara Villiger Heilig (Neue Zürcher Zeitung, 13.9.2014) ist unzufrieden. Einerseits werde brav die Geschichte erzählt und "vieles klingt an diesem Abend nach altmodischem Textaufsagen". Anderseits jage ein Gag den anderen, und die Geschichte "wirkt vom ersten Moment an als derart überspanntes Pointenfeuerwerk der garstigen Unhöflichkeiten, dass sich Bitternis, Zynismus und Verzweiflung in eine Karikatur verkehren."
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