nachtkritik-Theatertreffen 2024: die Nominierten
Die Wählbaren
17. Januar 2024. Das 17. nachtkritik-Theatertreffen läuft. Unsere Autor*innen in Schweiz, Österreich und Deutschland nennen ihre herausragenden Theaterabende des vergangenen Jahres. Jetzt sind Sie gefragt: Was spricht Sie an? Welche Arbeiten wollen Sie unterstützen? Die Abstimmung ist noch bis 24 Uhr möglich.
Hier unsere Nominierten
10. Januar 2024. Wir haben unsere Korrespondent:innen und Redakteur:innen gefragt: Welche Produktion im Zeitraum vom 9. Januar 2023 bis 6. Januar 2024 war die für Sie persönlich wichtigste? Welche Inszenierung ragte heraus?
Jede:r hatte eine Stimme, Doppelungen wollten wir nicht ausschließen. Wir listen hier die 43 Nominierungen alphabetisch und nach Ländern geordnet. Wenn man die verlinkten Titel anklickt, klappen jeweils die Begründungen für die Auswahl auf. Manche Produktionen erhielten mehrfache Nominierungen.
Und nun sind Sie, liebe Leser:innen, gefragt: Welcher Nominierung schließen Sie sich an? Welchen Produktionen wollen Sie Ihre Unterstützung geben? Am Ende dieser Seite können Sie bis 17. Januar 2024 für eine bis maximal zehn Inszenierungen stimmen.
Technischer Hinweis: Sollte der Abstimmungs-Button fehlen, kann das daran liegen, dass von einem anderen Gerät aus demselben Netz bereits votiert wurde. Von jeder IP-Nummer kann nur einmal abgestimmt werden. Theater haben oftmals nur eine gemeinsame IP-Nummer. Versuchen Sie aber bitte in jedem Fall: 1. die Seite zu erneuern, 2. einen anderen Browser zu benutzen. 3. Die Cookies für die nachtkritik.de-Website zu löschen. Sobald Sie abgetimmt haben, erscheint unmittelbar die Anzeige "Sie haben bereits abgestimmt". Für die Abstimmung empfehlen wir Google Chrome. Falls die Abstimmung dennoch nicht vorgenommen werden kann, bitten wir um Entschuldigung – es erreichen uns verschiedene Rückmeldungen, dass keiner der angegebenen Wege zum Ziel führt, wir können eine technische Neuauflage aber erst im kommenden Jahr angehen.
Das Tableau des nachtkritik-Theatertreffens 2024 wird am 19. Januar 2024 veröffentlicht.
Baden-Württemberg
Als wäre es gestern gewesen – Lieder zum Gedenken an Betroffene rechter und rassistischer Gewalt von Ayşe Güvendiren
Regie: Ayşe Güvendiren
Premiere am 2. Dezember 2023 am Nationaltheater Mannheim
Tag für Tag werden in Deutschland Menschen Opfer rechter und rassistischer Gewalt. Taten und Täter bleiben in Erinnerung, die Opfer meist nicht. Deshalb sucht die Regisseurin Ayşe Güvendiren nach einer angemessenen Form des kollektiven Erinnerns. Das Stück "Als wäre es gestern gewesen", das sie für die Schauspielsparte des Mannheimer Nationaltheaters konzipiert und inszeniert hat, beschreibt sie als einen Versuch, "einen Gedenkabend zu gestalten, der die Gewalt – soweit es geht – ausklammert und die Leben, die Geschichten, die Träume, die Sehnsüchte der Betroffenen in den Fokus nimmt". Dafür hat sie die Familien der Opfer befragt. Hat Geschichten aus dem Leben der Ermordeten gehört, die nun auf der Bühne weitererzählt werden. Hat Fotos gesammelt, die in den Raum gebeamt werden, und Songs, die sich die Hinterbliebenen zum Gedenken an ihre Liebsten gewünscht haben: Lieblingslieder der Opfer oder solche, an die sich positive Ereignisse knüpfen. Es ist ein emotional sehr komplexer, aufwühlender und kraftvoller Abend geworden, der sehr nahe geht. Er soll "trotz allem eine Feier des Lebens und der Zuversicht" sein und den Hinterbliebenen als Empowerment dienen. Denn, so Güvendiren: "Auch Trauer muss man überleben." Dass dieser inszenierte Liederabend so gut funktioniert, dafür ist die berührende Hingabe verantwortlich, mit der die Schauspieler:innen Leonard Burkhardt, Antoinette Ullrich, Larissa Voulgarelis und der Musiker Torsten Knoll spielen, singen und erinnern. Alle Lieder werden in den Originalsprachen performt. Dafür hat das Ensemble die jeweilige Aussprache – ob Türkisch, Griechisch, Vietnamesisch, Wolof oder Jiddisch – mit Sprach-Coaches genau einstudiert.
(Verena Großkreutz)
forecast:ödipus von Thomas Köck
Regie: Stefan Pucher
Premiere am 13. Mai 2023 am Schauspiel Stuttgart
Das Werk von Thomas Köck gerät in der Inszenierung von Stefan Pucher am Schauspiel Stuttgart zu einem bunten Theaterfest für Schauspieler*innen, die Bock haben, mal so richtig aufzudrehen. Und schafft es zugleich, den Antikenstoff zu einem Kommentar über die Unwucht öffentlicher Debatten zu machen – die den Opfer-Diskurs der Eliten weit vor die marginalisierte Perspektive der Hauptbetroffenen der Gegenwartskrisen setzt.
(Steffen Becker)
Bayern
Agamemnon von Aischylos
Regie: Ulrich Rasche
Premiere im deutschsprachigen Raum am 8. Dezember 2023 am Residenztheater München, Koproduktion Epidauros-Festival
Die Beharrlichkeit, mit der Ulrich Rasche seiner sehr persönlichen Ästhetik seit bald zwei Jahrzehnten treu bleibt, stößt auf bisweilen harsche Ablehnung bei den Anhängern eines psychologisch-realistischen Theaters. Wer eine dezidierte Handschrift, das Primat der formalen Strenge vor der Einfühlung schätzt, wird nicht müde, Rasches Umsetzungen, bei aller scheinbaren Gleichförmigkeit, zu bestaunen. Sein "Agamemnon" beginnt mit vier Musikern, die an Marimbas und später an einer Batterie verschiedener Trommeln durchgängig die rhythmisierte Sprache begleiten. Der Chor schreitet, erst als Schattenriss, dann im Halbdunkel unaufhörlich auf der Drehbühne vor und zurück. Den Duktus könnte man als Sprechoper kennzeichnen. Chor und Protagonisten bilden bei Rasche eine Einheit, im Gegensatz zu den Orestien von Peter Stein und Ariane Mnouchkine, die den Kontrast von Chor und Individuum pointierten. Klytämnestras Mord an Agamemnon wird in blendendes Licht getaucht. Die Rächerin Iphigenies und Rivalin Kassandras sowie ihr Komplize Ägisth treten splitternackt auf, triumphierend, wie ein Vorgriff auf die Elektra von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal, deren Opfer sie im zweiten Teil der Trilogie, in den Choephoren, werden. Der Münchner "Agamemnon" erweist sich als Triumph für Ulrich Rasches Methode. Die Fabel ist ja bekannt, und dass der Krieg, in Troja, in der Ukraine, in Israel schrecklich und grausam ist, bedarf wohl keiner Aufklärung, tendiert zur Banalität. Den Mehrwert auf der Bühne macht die Ästhetik aus.
(Thomas Rothschild)
Die Vaterlosen von Anton Tschechow mit einem Monolog von Katja Brunner
Regie: Jette Steckel
Premiere am 3. Juni 2023 an den Münchner Kammerspielen
Der schonungslose Blick des 18-jährigen Tschechow auf eine Generation Mitte 20, die gerade noch zur Rettung der Welt angetreten war und erkennen muss, dass ihre hochfliegenden Träume höchstens Stoff für eine Provinzposse abgeben. In Florian Lösches famosem Stangenwald lassen Jette Steckel und das spielwütige Ensemble Liebe und Schwächen noch einmal aufleuchten und entdecken hinter Verblendung und Selbstüberschätzung das große Drama menschlicher Unzulänglichkeit.
(Silvia Stammen)
Green Corridors von Natalka Vorozhbyt, Übersetzung von Lydia Nagel
Regie: Jan-Christoph Gockel
Premiere am 14. April 2023 an den Münchner Kammerspielen
Tragik glänzt erst recht in der unmittelbaren Nachbarschaft von Komik. Natalka Vorozhbyt fädelt in ihrem Stück "Green Corridors" Anekdoten über die Flucht aus der Ukraine und das Leben im Gastland auf eine Kette. Karfunkeln aus Trauma wechseln sich mit ironischen Perlen ab, Grauen mit Humor, Profanes mischt sich mit Absurdem. Das mehrsprachige Ensemble beherrscht die wechselnden Klangfarben perfekt. Es ist der Rhythmus aus Tragödie und Pointen, der den Text so wirksam macht, und es sind Jan-Christoph Gockel und sein Team, die kongeniale Bilder für die Erzählung finden.
(Martin Jost)
Theater über den Krieg in der Ukraine, das statt Betroffenheit schwarzen Humor und statt Schwarz-Weiß-Denken Hyperkomplexität anbietet. Es geht um zwischenmenschliche und seelische Verheerungen in Natalka Vorozhbyts bösem Stück, aber auch um die Berührungspunkte zwischen ukrainischer und deutscher Geschichte. Mal ganz ohne Puppen, dafür mit Live-Malerei und einem tollen deutsch-ukrainischen Ensemble findet Jan-Christoph Gockel eine einzigartige Form für diesen Themenkomplex. Ein Abend, der sich nicht anmaßt, das Unfassbare auserzählen zu können; ästhetisch reich, produktiv verwirrend und äußerst schmerzhaft.
(Sabine Leucht)
Übergewicht, unwichtig: Unform von Werner Schwab
Regie: Rieke Süßkow
Premiere am 6. Oktober 2023 am Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)
Rieke Süßkow entfaltet ein präzise chreografiertes Gesamtkunstwerk, ein schrilles, bewusst plakatives Gesellschaftspanorama, ein "Puppentheater" mit der ätzenden Sprachkritik eines Ödön von Horvath, bei dem der Zuschauer zum staunenden Voyeur wird.
(Wolfgang Reitzammer)
Berlin
Bucket List von Yael Ronen & Shlomi Shaban
Regie: Yael Ronen
Premiere am 9. Dezember 2023 an der Schaubühne Berlin
Eine beklemmend traurige, wunderschöne, ergreifende Studie über die Sprachlosigkeit. Mit dem 7. Oktober 2023 wurde die Welt von Menschen und Künstlern, die nach einer gemeinsamen Sprache und gemeinsamen Geschichten zwischen Völkern und Kulturen suchen, schwer erschüttert. Yael Ronen & Shlomi Shaban finden für diesen Zustand mit ihrem Musical "Bucket List" einen ureigenen Ausdruck.
(Christian Rakow)
Exit Above von Anne Teresa De Keersmaeker, Meskerem Mees, Jean-Marie Aerts, Carlos Garbin und Ensemble
Choreografie: Anne Teresa De Keersmaeker
Deutschlandpremiere am 18. August 2023 beim Festival Tanz im August
Altersweise und jugendfrisch ist Anne Teresa de Keersmaekers Shakespeare-Adaption. Mit "Exit Above" bricht die flämische Choreographin sinnbildlich ihren Stab als Bühnenmagierin und reicht ihn an die nächste Generation weiter. Ohne ihn jedoch ganz loszulassen: Gemeinsam mit ihrem Ensemble Rosas zaubert Keersmaeker zu den Blues-, Rock-, Rap-Klängen von Singer/Songwriter*in Meskerem Mees, Jean-Marie Aerts und Carlos Garbin einen heiter-melancholischen Nummernreigen voll überschäumender und doch wohl gebändigter Bewegungslust.
(Elena Philipp)
Extinction von Julien Gosselin nach Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal
Regie: Julien Gosselin
Premiere im deutschsprachigen Raum am 12. Juni 2023 bei den Wiener Festwochen, Koproduktion Volksbühne Berlin
Ich sah den Abend erst nach dem 7. Oktober in Berlin, und dieser ausgedehnte Rave, der am Anfang in so atemberaubender Weise alle – auch die Zuschauenden – Teil dieses unglaublichen wie besinnungslosen Tanze(n)s der Ahnungslosen in den Abgrund des Ersten Weltkrieges werden lässt (frei nach Christopher Clark "Die Schlafwandler), scheint mir seitdem wie eine prophetische Vorahnung des Massakers auf dem israelischen NOVA-Festival und darüber hinaus. Also all dessen, was kommen sollte. Der Abend kroch in alle Teile meiner Seele. Ein Theaterabend der Saison – auch wenn man über seinen Schluss vielleicht streiten kann.
(Esther Slevogt)
Gosselins furioses, gigantomanes Projekt - eine radikale Zumutung in drei gänzlich verschiedenen Teilen - verführt zum Tanz auf dem Vulkan am Vorabend der Apokalypse, heute und vor hundert Jahren. In Teil 1, einem Rave, ist das Publikum selbst einziger Akteur, kann versuchen sich in kollektive Ekstase zu tanzen oder den anderen dabei zuschauen. In Teil 2 verfolgen wir live die Produktion eines Films über ein ähnlich rauschendes Fest im Sommer 1913, bei dem Figuren aus verschiedenen Schnitzler-Stücken in Utopien über freie Liebe und Erneuerung der Kunst schwelgen, und dabei völlig blind für die nahende Katastrophe sind. Schwarzweiße Hochglanzästhetik und feines psychologisches Schauspiel provozieren mit ihrer Schönheit und Perfektion. In Teil 3 folgt die titelgebende Hass-Suada gegen die ewig faschistische österreichische Seele von Thomas Bernhard als rohes, minimalistisches Sprechtheater. Am Ende geht das alles nicht auf, fügt sich nichts zusammen, weder formal noch inhaltlich, aber merkwürdigerweise übt gerade das eine große Faszination aus. Die von einem großartigen französisch/deutschen Ensemble dargebotene fünfstündige Achterbahnfahrt zwischen Zeiten, Stilen, Wut und Hoffnung dürfte in der momentanen Theaterlandschaft einzigartig sein.
(Gabi Hift)
Den Abend tanzend beginnen, der darauffolgenden Abendgesellschaft in die Apokalypse folgen, tanzend, und dann Bernhard-Ballern bis nichts mehr geht. 10 von 10. Would do it again.
(Iven Fenker)
Leonce und Lena von Georg Büchner
Regie: Ulrich Rasche
Premiere am 20. Januar 2023 am Deutschen Theater Berlin
Vielleicht lässt sich Ulrich Rasches "Leonce und Lena" am besten als Reise beschreiben. Im Stück fliehen schließlich zwei gelangweilte Königskinder unabhängig voneinander vor ihrem Schicksal und rennen ihm dabei in die Arme. Aber das ist für Rasche nur ein Ansatzpunkt. In ihrem Kern ist seine Inszenierung eine Lebensreise, die vom Glauben an eine bessere Zukunft bis hin zur schwärzesten Resignation führt. Rasche treibt dem seltsamen Lustspiel "Leonce und Lena" auch noch den letzten Rest galliger Komik aus. Das giftige, vergiftete Märchen von Leonce und Lena verwandelt sich in einen Albtraum, der in einer blutig roten Automaten-Utopie endet, die einen das Fürchten lehren kann.
(Sascha Westphal)
Mothers. A Song For Wartime von Marta Górnicka & The Chorus Of Women
Regie: Marta Górnicka
Premiere im deutschsprachigen Raum am 3. November 2023 am Maxim Gorki Theater Berlin (Uraufführung am 29. September 2023 im Teatr Powszechny Warschau)
Antikriegs-Statements von Künstler:innen und Theatern gab es in den letzten Jahren aus gegebenen Anlässen viele, aber selten klangen sie derart kraftvoll wie aus den Mündern dieses Chors ukrainischer, belorussischer, polnischer Frauen. "Mothers. A Song For Wartime" ist aber nicht nur ein (klares) Statement, sondern entfesselt zugleich die Bandbreite der Gefühle, die Kriege und ihre Zerstörungen auslösen.
(Sophie Diesselhorst}
Planet B von Yael Ronen und Itai Reicher
Regie: Yael Ronen
Premiere am 8. Juni 2023 am Maxim Gorki Theater Berlin
Lustiger kann man kaum von menschengemachtem Klimawandel und Artensterben erzählen als dieser fulminant gespielte Abend, durch dessen Ritzen man in den Abgrund schaut.
(Georg Kasch)
The Silence von Falk Richter
Regie: Falk Richter
Premiere am 19. November 2023 an der Schaubühne Berlin
Es gab nicht viele Abende, die ich noch mal sehen will. Diesen schon. Des Textes wegen. Der Mutter wegen. Dimitrij Schaads wegen. Großes Kino.
(Shirin Sojitrawalla)
Bremen
Mach es gut! von Sylvia Sobottka
Regie: Sylvia Sobottka
Premiere am 16. Juni 2023 am Theater Bremen
Verbundensein von Kae Tempest
Regie: Alexander Giesche
Premiere am 28. April 2023 am Theater Bremen
Die Atomisierung der Gesellschaft, einander fremd zu werden und sogar sich selbst zu verlieren zwischen Verwertungsdruck und Überlastung: Es sind große Fragen, die Spoken-Word-Artist und Autor:in Kae Tempest im Essay "Verbundensein" aufwirft. Und die Alexander Giesche auf der Bühne sogar noch zugespitzter verhandelt. Es ist schlicht grandios, diesen sperrigen Diskursbrocken aufgehen zu sehen in einem poetischen Theatergemälde, das der Misere unseres Miteinanders (und damit auch dem Wesen der Kunst selbst) weit näher kommt, als die Behaglichkeit des Abends vermuten ließe.
(Jan-Paul Koopmann)
Hamburg
Barocco von Kirill Serebrennikov
Regie: Kirill Serebrennikov
Premiere am 25. Mai 2023 am Thalia Theater Hamburg
Krisen, Katastrophen, Kriege. Dunkelgrau die Stimmungslage. Dunkelgrau die Atmosphäre auf der Bühne der Schauspiel-Oper-Tanz-Collage "Barocco" des sendungsbewussten Regisseurs, Bühnen- und Kostümbildners Kirill Serebrennikov. In der allgemeinen Finsternis erklärt er Extravaganz zur Tugend, entflammt das Feuer seiner visuell unbändigen Fabulierlust und offeriert eine Flucht in die emotionale Glut der Barockmusik. Den in vokaler Pracht dargebotenen Arien zugeordnet sind kurze Spielszenen des politisch befeuerten Widerstands – von den 1968ern bis zur Letzen Generation – sowie der scheiternden Hingabe an Ideen, an die Liebe, die Kunst, die Schönheit. "Barocco" brennt vor Leidenschaft, Überzeugungskraft und Dringlichkeit in Sachen Freiheitswillen, ist poetisch-pathetisch, kitschig, plakativ – ein betörender Augen-, Ohren-, Seelenschmaus als Antidepressivum in dunklen Tagen. So geht Musical heute.
(Jens Fischer)
Das 13. Jahr von SIGNA
Konzept und Regie: Signa und Arthur Köstler
Premiere am 21. Oktober 2023 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (Außenspielstätte)
Der fundamentale Reiz der Nähe war, ist und bleibt unvergleichlich – Signa und Arthur Koestler haben diesmal den deutlich als "Simulation" gekennzeichneten Versuch unternommen, uns, das Publikum, zurückzuverwandeln in 12-jährige, die in einem rätselhaften, verhext-verfluchten und immer nebelschweren Dorf stranden, in armseligen Hütten und bei noch armseligeren Familien, zurückgeworfen auf sich selbst ... Erstmals waren Ensemble-Mitglieder vom Schauspielhaus integriert - wie das Publikum fühlten sie sich enorm bereichert und entgrenzt. Ein europäischer Kulturfonds übrigens müsste her, der diese Art von Theater finanziell absichert - denn selbst wohlhabende Bühnen werden sich (das steht zu fürchten) solche Kraftakte absehbar kaum noch leisten können.
(Michael Laages)
Signa bauen wieder eine Horrorlandschaft, wie gewohnt mit ausgesucht trostloser Ausstattung und mit einem seltsamen, passiv-aggressiven Figurentableau, das dem Publikum den Besuch zur Hölle macht. Aber diesmal behaupten Signa nicht mehr eine verstörende Realität, von vornherein ist klar, dass man es bei "Das 13. Jahr" mit einer Inszenierung zu tun hat. Ein Albtraum ist es trotzdem, womöglich noch unerträglicher als frühere Arbeiten des österreichisch-dänischen Kollektivs.
(Falk Schreiber)
Die Namenlosen. Verfolgt in Hamburg von Nesterval
Regie: Martin Finnland
Premiere am 10. August 2023 beim Internationalen Sommerfestival Kampnagel, Adaption der Premiere vom 4. Mai 2023 vom brut Wien
Dieser Theaterabend berührt, wühlt auf und hallt noch lange nach. Besucher*innen tauchen physisch und emotional ein in die Welt einer Hamburger LGBTQIA*-Community während der Nazi-Zeit. Man folgt im Laufschritt erst der einen, später der anderen Figur. So erlebt praktisch jeder und jede im Publikum eine ganz individuelle, eigene Kette von Ereignissen. Punktgenau gesetzte Lichtstimmungen, ein unaufdringlich suggestives Sounddesign und die schnörkellose Selbstverständlichkeit des Spiels entwickeln einen kraftvollen Sog. Immersives Volkstheater. Mutig, sinnlich, lebendig und relevant.
(Stefan Forth)
Hessen
Die Bakchen – Holstein Milchkühe von Satoko Ichihara
Regie: Satoko Ichihara
Europa-Premiere am 29. Juni 2023 bei "Theater der Welt" in Frankfurt am Main und Offenbach
Satoko Ichiharas "Die Bakchein – Holstein Milchkühe" ist ein Abend der Extreme, der den alltäglichen Missbrauch zahlloser Lebewesen gnadenlos durchexerziert, und hierfür immer wieder auf die Untiefen des europäischen Kanons anspielt.
(Esther Boldt)
Niedersachsen
Pirsch von Ivana Sokola
Regie: Christina Gegenbauer
Premiere am 29. Januar 2023 am Deutschen Theater Göttingen
Die Inszenierung von Christina Gegenbauer zeigt in schlichten und gerade deswegen starken Bildern die vernichtende Macht von Traumata und die systemische Gewalt, die in kleinen Gemeinschaften mitunter gar nicht
hinterfragt wird. Kreative Kostüme und ein beeindruckender Soundtrack machen diese Inszenierung zu meinem Favoriten 2023.
(Simon Gottwald)
Yaras Hochzeit von Antigone Akgün, Rasit Elibol, Mohamedou Ould Slahi, Rik van den Bos
Regie: Guy Weizman
Premiere am 24. Februar 2023 am Schauspiel Hannover
Ein wilder Ritt durch Genres und Sprachen, in dessen Herz eine berührender Geschichte über einen Generationenkonflikt liegt, der im Versprechen einer besseren Welt aufgelöst wird. Dabei wird "Yaras Hochzeit" aber nie naives Thesentheater, sondern legt, zwischen musicalhafter Leichtigkeit und Coming-of-Age Geschichte, fast schon brutal die großen Gräben offen, die zwischen Hautfarben, Religionen, Ideologien und Vorurteilen bestehen, egal, ob man sie nun sehen will oder nicht.
(Jan Fischer)
Nordrhein-Westfalen
And now Hanau von Tuğsal Moğul
Regie: Tuğsal Moğul
Premiere am 12. Mai 2023 auf den Ruhrfestspielen Recklinghausen, Koproduktion mit dem Theater Münster und dem Theater Oberhausen, in Kooperation mit dem Maxim Gorki Theater Berlin
Die kritische Aufarbeitung des rechtsextremen Terroranschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau ist politisches Theater im besten Sinne, weil es nicht nur fragwürdige Momente und Widersprüche in der staatlichen Umgangsweise mit dem Terroranschlag, von der Tatnacht über die nachfolgende Aufklärung in dokumentarischer, gleichwohl spannend gespielter Weise aufdeckt. Die Wahl des Oberhausener Ratssaals stellt das Stück in produktive Spannung mit dem Spielort im physischen Zentrum kommunaler Macht. Darüber hinaus aber leisten Stück und Inszenierung wertvolle Erinnerungsarbeit, indem sie die Terroropfer als liebenswerte Menschen porträtieren und somit vor dem Vergessen bewahren. Theater ist hier eng verbunden mit dem gesellschaftlichen Engagement der Hanauer Initiative 19. Februar und erhebt eine wichtige Stimme auf der Bühne im Einwanderungsland.
(Karin Yeşilada)
Der Würgeengel. Psalmen und Popsongs nach dem Film von Luis Buñuel
Regie: Johan Simons
Premiere am 4. März 2023 am Schauspielhaus Bochum, Koproduktion mit dem Schauspiel Leipzig|closed
Eine genuine Theatersituation: Man kann nicht von der Bühne herunter. Wenn man nur wollte, könnte man, aber man kann nicht wollen. Aber auch eine Metapher für die Willensschwäche einer untergehenden Zivilisation, die den Ausweg sieht, aber nicht wollen kann. Die Ereignislosigkeit und Handlungslähmung wird zum Ereignis durch Sandra Hüllers schauspielerische Gesangskunst. Popsongs und Choräle, die kann sie alle, jeweils mit einer leichten Ironie, die alle melancholische Verzweiflung mit einem Hauch von distanzierter Heiterkeit grundiert.
(Gerhard Preußer)
Die Brüder Karamasow nach Fjodor Dostojewski
Regie: Johan Simons
Premiere am 14. Oktober 2023 am Schauspielhaus Bochum
"Die Brüder Karamasow“ – eines langen Tages Reise in die Nacht und ins Licht froher Botschaft. Die siebenstündige Dostojewski-Erkundung von Johan Simons und seinem wunderbaren Ensemble im Schauspielhaus Bochum ist im Gesamten ihrer Stimmungswechsel und -bilder wie eine Sinfonie, die uns durch ihre verschiedenen Sätze führt. Die Aufführung nimmt das Wesen einer hellwachen Séance an, um ganz bei sich zu sein und aus ihrer lauernden Entspanntheit jähe Ekstase, wilde Jagd, kollabierende Gemütsruhe, psychische Blitzgewitter und moralische Absolutismen hervorzubringen.
(Andreas Wilink)
Hamlet von William Shakespeare
Regie: Laurent Chétouane
Premiere am 14. Oktober 2023 am Theater Aachen
Laurent Chétouanes "Hamlet"-Inszenierung bringt ins Wanken: Nicht nur, dass man das Drama heute noch so vollständig aufführen könnte, wie es aus Shakespeares Feder geflossen ist, darf man nach dem variablen Abend bezweifen. Auch die Frage, ob Theater in einer komplexen Wirklichkeit überhaupt noch Sinn stiften kann oder bloß Kontingenz abbilden, wird man danach unruhig stellen. Dass großartiges Schauspiel auch in der Theater-Peripherie möglich ist, wird hier allerdings zu Gewissheit.
(Max Florian Kühlem)
Keine Sorge (Religion) von Bonn Park mit Musik von Ben Roessler
Regie: Bonn Park
Premiere am 20. Oktober 2023 am Schauspielhaus Düsseldorf
Abende, die sich dem Diskursklima unserer Tage widmen, gab's ja häufiger in dieser Bühnen-Saison. Kunstwerke, die dafür nicht nur eine zwingende, sondern noch dazu überraschende ästhetische Form finden, haben dagegen Ausnahmecharakter. Bonn Park und Ben Roessler feiern die Gegenwart als Messe einer Zeitgeistreligion mit dem mantrahaft gesungenen Heilsversprechen: "Keine Sorge! Sorge dich nicht! Sei unbesorgt! Wehe, du sorgst dich!“. Wie hier die Sehnsucht nach neuen Glaubenssätzen hintersinnig mit der Komplexität unserer Wirklichkeit kollidiert – das ist großes Theater!
(Christine Wahl)
Nachkommen. Ein lautes Schweigen! von Emre Akal
Regie: Emre Akal
Premiere am 19. Januar 2023 am Theater Münster
Emre Akals dystopische Grusel-Komödie spielt in einem bunten Tiny-House und stellt sich mit viel Witz zentralen Fragen der Zeit. Dieser spannungsreiche Ansatz hat das Publikum in Münster sehr polarisiert – und gerade dadurch gezeigt, dass Akal sowohl mit seinem Text als auch seiner Bildsprache einen Nerv getroffen hat.
(Kai Bremer)
Richard III. von William Shakespeare
Regie: Evgeny Titov
Premiere am 2. September 2023 am Düsseldorfer Schauspielhaus
Die Männer fehlen, bis auf ihn natürlich, den monströsen Titelhelden, und man vermisst sie nicht. Ohnehin leisten sie keine spürbare Gegenwehr, das tun in dieser Lesart des blutrünstigen Dramas die Frauen. Jedenfalls hat Evgeny Titov, an sich kein Bilderstürmer unter den Regisseuren, eine ganze Reihe von Belegen dafür gefunden, dass es die Frauen, Mütter, Schwiegermütter etc. sind, die Hölzer in die Speichen dieses perfiden Machtgetriebes stemmen. Überdies ist die Inszenierung im extravaganten Italowestern-Look bildschön anzusehen.
(Martin Krumbholz)
Solingen 1993 von Bassam Ghazi und Birgit Lengers
Regie: Bassam Ghazi
Premiere am 15. April 2023 am Düsseldorfer Schauspielhaus / Junges Schauspiel / Stadt:Kollektiv
Mit "Solingen 1993" haben Bassam Ghazi und das Stadt:Kollektiv, ausgehend von dem neonazistischen Brandanschlag 1993, ein multiperspektivisches berührendes Gesamtkunstwerk entwickelt. Die Stadt Solingen selbst wird zum Gedenk- und Reflexionsraum: Erinnerungsguerilla der Nachgeborenen, Würdigung der Toten, Solidaritätserklärung mit den Überlebenden, politische Spurensuche und Expert:innentheater auf höchstem Niveau.
(Cornelia Fiedler)
Rheinland-Pfalz
Extrem teures Gift von Lucy Prebble
Regie: Manfred Langner
Premiere am 23. September 2023 am Theater Trier
Den Mord an Alexander Litwinenko, bis 2000 Geheimdienstoffizier des KGB und dessen Nachfolger FSB, verarbeitet Lucy Pebbles in ihrem Stück "Extrem teures Gift". Intendant Manfred Langner saß selbst am Regiepult und hat sich bei seiner Inszenierung zahlreicher dramatischer Gattungen bedient – Elemente des dokumentarischen Theaters, Lehrstück und Vorlesung mit direkter Ansprache ans Publikum, slapstickartige Einschübe und Ausflüge in die britische Music Hall-Tradition. Chronologie und geografische Grenzen sind aufgehoben in dieser Revue über die letzten Jahre eines wechselhaften Lebens. Zudem ist die Tragödie um den abtrünnigen Agenten alles andere als nur das. Es darf auch herzlich gelacht werden – über die Dummheit eines Despoten und die Tollpatschigkeit seiner Schergen; ein Aspekt, den die Witwe Marina Litwinenko, die an der Entstehung des Stückes beteiligt war, unbedingt im Stück haben wollte.
(Rainer Nolden)
Sachsen
Niederwald von Wolfram Höll
Regie: Elsa-Sophie Jach
Premiere am 16. Dezember 2023 am Schauspiel Leipzig
Es geht in Wolfram Hölls verrätseltem Text um Verständigung und Verlust, Verwahren und Verkennen, was Regisseurin Elsa-Sophie Jach in ebenso enigmatische Bilder packt in einer fesselnden Uraufführung. Das Ensemble meistert beeindruckend diese verschachtelte, vielschichtige Sprachkunst.
(Tobias Prüwer)
Sachsen-Anhalt
Drache von Jewgeni Schwarz, aus dem Russischen von Günter Jäniche
Regie: Mareike Mikat
Premiere am 15. September 2023 am Neuen Theater Halle
Die Inszenierung ist eine an der Oberfläche grellbunte, in Wahrheit aber sehr subtile Übung zur Verführbarkeit des Menschen. Mareike Mikat legt enorm viele Schichten frei, die bis ins Heute reichen, ohne zu plakativ zu sein. Der Fokus liegt dabei auf Elsa, gespielt von Tristan Becker. Ganz in Weiß (mit einem Hauch von Hellblau und blonder Perücke) ist sie angelehnt an Disneys gleichnamige "Eiskönigin". Becker macht aus der Frau, der eigentlich die Rolle des Opfers zugedacht ist, die Heldin des Abends. Der Rest ist große Lust am Spiel, bis zur Pause wird geradezu schwankhaft übertrieben: falsche Schnurrbärte, Sprachholpereien à la "im Geifer des Geschlechts", Luftballons und Wattebälle. Ein Abend voller Anspielungen und zauberhafter Ideen.
(Matthias Schmidt)
Jagdszenen von Martin Sperr
Regie: Julia Prechsl
Premiere am 9. September 2023 am Theater Magdeburg
Das Stück über die Ausgrenzung von als anders empfundenen Menschen, das gemeinschaftsstiftende Produzieren von Außenseitern und die Terrorherrschaft all dessen, was als "normal" empfunden wird, ist sowohl als Text als auch in der Inszenierung sensationell zeitlos und wahr. Figuren, Bühne und Musik gehen brachial nah; alles, was Liebe ist oder die Sehnsucht, einander nah zu sein, wird zerstört durch eine post-faschistische Gesellschaft in einem Dorf nach dem Krieg, die zugleich schon wieder eine prä-faschistische ist.
(Christian Muggenthaler)
Österreich
Ahnfrauen von Rabtaldirndln
Regie: Nadja Brachvogel
Premiere am 18. Januar 2023 im Kristallwerk Graz, eine Koproduktion Rabtaldirndln, Kosmos Theater Wien und Theaterland Steiermark
Das Rabtal existiert nicht, die Rabtaldirndln aber gibt es seit 20 Jahren. Um die Geburt des Kollektivs zu feiern, machen Barbara Carli, Rosa Degen-Faschinger, Bea Dermond und Gudrun Maier ein Stück über ihre Mütter. Sie filmen sie beim Verlesen von Texten der performenden Töchter. Sie dokumentieren ihre SMS-Konversationen mit ihnen. Sie laden sie zu einem gemeinsamen Schnitzelessen ein, tauchen dann aber selbst nicht auf. Schön für sie, könnte man sagen, aber was hat das mit uns zu tun? Erfreulich viel, denn eben durch diesen radikal persönlichen Zugang eröffnen die Dirndln mit ihrer Regisseurin Nadja Brachvogel ein immenses Feld, auf dem allerlei Gedanken zu Mutterschaft und Kindschaft in Zeiten aufgeklärter Kunstproduktion sprießen können. Auch eine Genderforscherin und bildende Kunst mit mehr oder weniger heiligen "Ahnfrauen" wurden herangezogen. Selten hat Feminismus mehr Spaß gemacht als hier. Wenn zum Abschluss das töchterlose Schnitzelessen nachgestellt wird, ist das zugleich der lustigste und einer der rührendsten Theatermomente des Jahres.
(Martin Thomas Pesl)
Der Zauberberg von Thomas Mann in der Fassung von Bastian Kraft
Regie: Bastian Kraft
Premiere am 28. Januar 2023 am Burgtheater Wien
Mit einem ausgeklügelten Zusammenspiel von Video und Live-Situation bringt Bastian Kraft die flimmernde, hochintellektuelle und zugleich extrem sinnliche Höhenluft von Thomas Manns "Zauberberg" auf die Burgtheater-Bühne - und schafft es dabei, aus der Spielanordnung ungeahnte Dynamik herauszuholen. Ein Hoch auf das grandiose Ensemble, nicht zuletzt aber auch auf die Kostüm- und Maskenbildnerinnen Jelena Miletić und Lena Damm.
(Andrea Heinz)
Malina nach Ingeborg Bachmann
Regie: Claudia Bauer
Premiere am 8. September 2023 am Volkstheater Wien
Kanonpflege, feministische Kritik, solides Live-Videotheater, und vor allem atmosphärische Stimmführung: Claudia Bauers Bachmann-Adaption "Malina" ist irgendwie eine eierlegende Wollmilchsau und damit trotz der gruseligen Thematik stimmig schön.
(Leopold Lippert)
Museum of Uncounted Voices von Marina Davydova
Regie: Marina Davydova
Premiere am 22. Mai 2023 bei den Wiener Festwochen, Koproduktion mit dem HAU Berlin
Marina Davydova kämpft mit dieser ebenso anspruchsvollen wie unbequemen Arbeit gegen die großen kollektiven Ideologien an. Und für ihr Recht, frei zu sein, also ein Mensch wie kein anderer. Sie fordert einen Platz in der großen Historie, an dem sie selbst ihre eigene Geschichte schreiben kann.
(Michael Wolf)
Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier) von Elfriede Jelinek
Regie: Joachim Gottfried Goller
Premiere am 21. Januar 2023 am Tiroler Landestheater in Innsbruck
Mit dem Text reagiert Elfriede Jelinek 2018 auf die Enthüllung eines Missbrauchsskandals im österreichischen Skiverband und thematisiert die vielfältigen noch vorhandenen Strukturen der Verharmlosung von sexualisierter Gewalt. Die Inszenierung und Ausstattung der endlich erfolgten österreichischen Erstaufführung verbietet sich jegliche Resignation und erweist sich als kluge Fokussierung der Brisanz dieser "alten Leier".
(Christa Dietrich)
Szenen einer Ehe nach dem Film von Ingmar Bergman
Regie: Markus Öhrn
Premiere am 30. März 2023 am Volkstheater Wien
Alles, was in Bergmans Film immer weiter in die Seelenabgründe von Marianne und Johan hineinbohren will, wendet sich in Markus Öhrns radikal artifizieller Zwei-Personen-Inszenierung nach außen – konsequenterweise bis hin zum finalen Splatterfest. Selten wurde eine Vorlage so ernst genommen und gleichzeitig so gründlich dekonstruiert. Ein großer, böser, schrecklicher Spaß.
(Janis El-Bira)
Zur Nachtkritik
Schweiz
Abteilung Leben von Christoph Marthaler und Ensemble
Regie: Christoph Marthaler
Premiere am 2. Juni 2023 am Theater Basel (Außenspielstätte)
"Abteilung Leben" von Christoph Marthaler in der ehemaligen Gemeindeverwaltung Birsfelden – wohl ein typischer Marthaler, aber neu ist der unterschwellige Schrecken vor einem vergeudeten Leben, den der 72-jährige Regisseur in seiner Inszenierung sinnlos erscheinender Abläufe grimmig und jäh aufblitzen lässt. Bei aller Überzeichnung des untoten Beamtenpersonals, das er wiedergehen lässt: Wir werden in den Büros und Wartezonen selbst zu Marthaler-Figuren. Und die Sprache als gültiges Kommunikationsmittel scheint ihm abhandengekommen, die Zeichen werden ihrer Bedeutung entkleidet.
(Claude Bühler)
Die Möwe nach Anton Tschechow
Regie: Christopher Rüping
Premiere am 22. Dezember 2023 am Schauspielhaus Zürich
Alte Formen, neue Formen: Christopher Rüping und sein All-Star-Ensemble klopfen Tschechow ab und befreien ihn vom ästhetischen Staub und melancholischen Lametta. Gewiss, ein russischer Samowar ist schön auf der Bühne, gewiss, die Granden aus früheren Schauspielhaus-Zeiten waren noch richtige "Menschendarsteller". Aber kann uns zum Beispiel naturalistisches Theater, werkgetreu aufgeführt und somit aus der Zeit gerissen, überhaupt noch angehen? Die Darstellermenschen in Zürich remixen Tschechows Fragen, differenziert und ohne naheliegende Ressentiments zu bedienen, aber mit unerschöpflicher komödiantischer Spiellust, und entdecken dabei die nüchterne Schauspielerin Nina als hoffnungsvollste Figur von allen.
(Andreas Klaeui)
Riesenhaft in Mittelerde frei nach J.R.R. Tolkien
Regie: Nicolas Stemann, Florian Loycke (Das Helmi), Stephan Stock (Theater Hora), Der Cora Frost
Premiere am 22. April 2023 am Schauspielhaus Zürich (Schiffbau-Halle)
1250 Seiten Tolkiens "Herr der Ringe" auf der Bühne, aber wie! Das Regietrio baut in die Schiffbau-Halle eine begehbare Inszenierung, die man zuerst 20 Minuten erkunden kann und in der sich dann Frodos Abenteuer in Mittelerde abspielen. Als Spektakel, als Riesengaudi, mit viel Rummel, viel Musik, viel Action. Als Auseinandersetzung mit einem Monsterfilm, der seine Fans zu Tausenden hat, trotz rassistischer und misogyner Töne. Das wird mitgespielt, aber nicht ausgestellt. Auch die Hora-Schauspieler:innen werden nicht ausgestellt, sondern eingebaut, genauso wie sie sind. Das hat Klasse, das hat Selbstbewusstsein, das feiert das Theater in seinem Fantasiereichtum. Man versteht nicht alles, aber das macht nix. Denn man wird auf allerbeste Art großartig unterhalten.
(Valeria Heintges}
SPAfrica von Julian Hetzel & Ntando Cele
Regie: Julian Hetzel
Premiere am 10. Mai 2023 im Théâtre Vidy Lausanne, Koproduktion mit dem Schauspiel Leipzig
Südafrikanisches Trinkwasser gegen in Europa extrahierte Tränen? Das Fake-Wellness-Produkt "SPAfrica" materialisiert in der gleichnamigen Inszenierung von Julian Hetzel & Ntando Cele diesen zynischen Tauschhandel als Kritik an ökonomischem und ökologischem Extraktivismus der globalisierten Gegenwart. Zusätzlich wird die Fake-Produktpräsentation in eine mitreißende Performance aus Tanz, Musik und Meta-Kunstdiskurs eingebettet, die auch den kulturellen und emotionalen Extraktivismus bestimmter "anderer", insbesondere Schwarzer, Körper auf Europas Bühnen seziert. "SPAfrica" schafft es, die komplexen neokolonialen Machtverhältnisse und die eigenen Verstrickungen darin in schmerzhafter und erkenntnisreicher Ambivalenz erfahrbar zu machen.
(Theresa Schütz)
Die Abstimmung ist beendet.
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Obwohl das mein erster Versuch war.
(Lieber Hans-Peter Jahnke, das tut uns sehr leid. Da muss ein Fehler in den hinteren Winkeln des Moduls stecken. Die Abstimmung läuft verglichen mit den Zahlen der letzten Jahre ohne Auffälligkeiten ab. Aber einzelne Hinweise gab es in den letzten Jahren immer mal wieder. Das ist für die Technik schwer, die Logik hinter den Unregelmäßigkeiten zu finden. Ich kann nur hoffen, dass es aus einem anderen Netzwerk/Mobilnetz funktioniert. Herzlich, Christian Rakow)
Viele Grüße
Susanne
(Anm. Redaktion: Bitte versuchen Sie es noch einmal ggf. mit Cache leeren. Wir haben eine Einstellung justiert und sind zuversichtlich, eine mögliche Fehlerquelle ausgeschlossen zu haben. Wie schon oben gesagt: Das Problem scheint nur punktuell aufzutreten, die Abstimmungen laufen regulär auf dem Niveau des Vorjahres.)
Aber wer will schon Theatern in Meiningen, Jena, Dresden, Schwerin, Rostock oder Bautzen überhaupt eine gleichwertige Chance geben, wenn man stattdessen einfach mehrmals nach Hamburg oder München fahren kann und sich die Abende da auf Kosten seiner Zeitung versüßt.
Prost!
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Liebe Lena, wir arbeiten dran! Herzliche Grüsse aus der Redaktion..
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Danke für Ihre Geduld und herzliche Grüße aus der Redaktion!
Zudem finde ich es sehr gut, dass Nachtkritik sich nicht nur um die Theater in Millionenstädten kümmert. Auch in kleineren Städten leben an Theater interessierte Menschen und auch dort wird sehr gutes Theater gespielt. Prima, dass Nachtkritik sich darum kümmert. Ich hoffe sehr, daß bleibt auch so.
Also doch nur just for fun. So ein Quatsch
Das, was wir machen, ist Arbeit, und das heißt kompakter Stress: Vorbereitung z.B. lesen des Theaterstücks u.a.m., u.U. eine Fahrt mit Auto oder Bahn tagsüber zum Spielort machen, abends konzentriert zuschauen und -hören, sofort nach Hause (Hotel) oder ins Büro, unter Zeitdruck aktuelle Kritik schreiben - wo da das "süße Leben" (?) noch passieren soll, habe ich Alt-Profi noch nicht entdecken können. Abgesehen davon ist aber natürlich jeder Theaterabend ein Vergnügen!
____________________________
(Lieber Kommentator, es handelt sich hier um eine Nominierungsliste aus der Nachtkritik-Autorenschaft. Da jede*r Autor*in nur eine Nominierung abgeben konnte, haben es auch andernorts nicht alle positiv auf nachtkritik besprochenen Produktionen auf diese Liste geschafft. Wir freuen uns aber über Ihre Ergänzungen hier in den Kommentaren. Mit freundlichen Grüßen aus der Redaktion, Sophie Diesselhorst)
(Anm. Redaktion. Liebe Lena, es ist ja ein virtuelles Theatertreffen. Am Schluss präsentieren wir die zehn Arbeiten mit den meisten Stimmen in Trailern oder Fotos. Eine kleine Würdigung für ein Tableau dessen, was mal spannend zusammen zu sehen wäre.)
(Anm. Redaktion: Liebe Nadja, wir bedauern das sehr. Der Fehler lässt sich in seiner Systematik nicht erkennen. Die Abstimmungen verlaufen en gros auf dem Niveau des Vorjahres. Offenbar kommen die meisten Nutzer*innen durch. Aber natürlich ist es ärgerlich, dass es diese Ausfälle gibt, von denen wir Kunde erhalten. Eine tiefergehende Renovierung des Moduls scheint unumgänglich, kann aber erst fürs nächste Jahr vorgenommen werden. Herzliche Grüße aus der Redaktion, Christian Rakow)
(Anm. Redaktion. Sehr geehrte Mena, von Ihrer IP-Adresse ist heute tatsächlich bereits eine Abstimmung vorgenommen worden, und zwar für "Hamlet". Ich habe nachgeschaut. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Die Vielzahl an Aufrufen von Kolleg*innen bitte für ihre Inszenierungen abzustimmen lässt aber erahnen, dass nicht besonders bemerkenswerte Aufführungen sondern welche mit größtmöglicher Mobilisierungsmöglichkeit die Abstimmung "gewinnen" werden. Schade, denn das hat nichts mit künstlerischer Qualität zu tun.
Schwer zu beschreiben, was passiert, wenn man nicht dabei gewesen ist. Unbedingt nach Berlin holen!
(Anm. Redaktion: Wie jeder gute Referee bemühen wir uns, Schummelei zu verhindern und beobachten das Abstimmungsverhalten und sorgen bestmöglich, dass das Spiel fair abläuft. Aber natürlich: Wie in jedem Spiel kann es Leute geben, die das Spiel kaputt machen wollen.)